Zur Unendlichkeit

Weit, weit draußen, 
dort, wo des Himmels 
weiße Wolkenkissen 
all irdisches Getöse 
still in Sanftheit betten, 
muss die Unendlichkeit 
zu Hause sein. 
Würd‘ sie 
so gern erreichen, 
eins mit ihr werden, 
in ihr schwebend 
eigene Gedankendeiche 
fluten. 
Viel zu lang schon
stapft ich im Schlick 
meines Sehnens 
ihr hinterher, 
bis eigene Endlichkeit 
fast mich verschlungen.
Nun schau‘ ich 
auf den Kompass, 
den sie mir geschenkt. 
Er sagt: 
Zur Unendlichkeit 
geht’s weder vor 
noch zurück. 
Sie ist in dir.

Jeden Tag dasselbe

„Ich versteh die nicht“, sagte die Sonne.
„Wen verstehste nicht?“, fragte die Wolke.
„Die da unten. Ist doch jeden Tag dasselbe: Sobald ich ’n Abgang mache, stehn sie da, sagen nichts mehr, staunen nur noch.“
„Freu dich doch“, sagte die Wolke, „das schafft nicht jeder.“
„Was, gesehen zu werden?“
„Nein, die da unten so zum Staunen zu bringen, dass es ihnen die Sprache verschlägt.“
„Ja gut, aber was haben sie davon?“
„Dich wortlos bestaunend entdecken sie eine neue, ganz stille Sprache: die ihrer Menschlichkeit.“ ??

Von wegen konkurrenzlos schön

„Mal ’ne Frage, so von Margerite zu Margerite“, sagte die eine zur anderen. „Findeste nicht auch, dass wir unheimlich gut aussehen?“
„Jedenfalls ganz passabel“, sagte die andere. 
„Passabel? Also ich finde, wir sind ’ne Pracht.“
„Nicht nur wir.“
„Ja, okay, aber hier sind wir außer Konkurrenz.“
„Und was ist mit unserem Glockenturm? Ich finde den total imposant.“
„Er sich aber auch, dieser Angeber. Der will doch nur eins: hoch und höher hinaus. Für unsereins hat der doch gar keinen Blick.“
„Der ist wahrscheinlich in den Himmel verliebt.“
„Ich sag’s ja: Angeber. Träumer. Rafft überhaupt nicht, dass der Himmel ’ne Nummer zu groß für ihn ist.“
„Lass ihn doch. Wird schon passen.“
„So ein Stuss.“
„Nee, im Traum ist nix unmöglich. In der Liebe doch auch nicht. Die zieht einen immer hoch hinaus. Ist übrigens auch gut so.“ 
„Wieso?“
„Weil sie uns sonst nie so tief berühren würde. Träumst du denn nie?“
„Klar.“
„Und wie ist das?“
„Ganz merkwürdig. Ich erfahre da immer Sachen über mich, von denen ich nicht mal gewagt hätte zu träumen.“ ?

Wie die sich immer hervortut

„Die schon wieder“, sagte die eine Welle zur anderen.
„Wer schon wieder?“
„Die olle Boje da.“
„Was haste denn gegen die?“
„Siehste denn nicht, wie die sich immer hervortut?“
„Ich seh nur, dass sie groß und ziemlich rot ist.“
„Sag ich doch.“
„Nee, hast was anderes gesagt.“
„Quatsch, immer diese Wortklauberei. Die ist nicht nur groß und rot, die ist auch so ’n typischer Einzelgänger. Ich glaub, die genießt es richtig, sich über uns zu erheben und sich von allen anstarren zu lassen.“
„Kann auch ganz anders sein.“
„Und wie?“
„Vielleicht ist sie nicht nur äußerlich groß. Und vielleicht hat sie kapiert, dass Größe verpflichtet.“
„Wozu denn verpflichtet?“
„Richtung zu geben.“
„Aha.“
„Außerdem spür ich gerade, dass ich Einzelgänger gar nicht übel finde.“
„Wieso denn das jetzt?“
„Weil kaum einer unsere Fantasie in die Gänge bringt wie sie.“

Herdendenken

„Sag bloß, du hast dich verirrt?“, sagte der Deich.
„Nee, noch nicht“, sagte das Schaf.
„Und wieso guckste dann so ratlos?“
„Weil mit uns was nicht stimmt.“
„Mit wem?“
„Mit unserer Herde.“
„Da wissen schließlich alle, wo’s langgeht“, sagte der Deich. „Einfach dem Ersten nach. Immer weiter.“
„Das ist es ja! Immer hinterm Leithammel her.“
„Ist doch okay.“
„Find ich aber nicht demokratisch.“
„So geht’s doch am besten“, sagte der Deich.
„Die Herde könnte auch den Hammel leiten“, sagte das Schaf.
„Weiß nicht. Ich glaube, du verläufst dich.“
„Nich so schlimm. Lieber auf’m Deich verlaufen als inne schräge Idee von so `nem Hammel verrennen.“ ?

Im Raum aus Gold

„Keine Ahnung, ob das Kunst ist“, sagte ein Ausstellungsbesucher zum anderen, „aber eins weiß ich sicher: Weg kann das nicht.“
„Wie meinste das?“
„Guck doch mal: ein ganzer Raum aus Gold. In totaler Schlichtheit. Hat ’ne enorme Ausstrahlung. Wirkt irgendwie überirdisch schön.“
„Klingt nach Vollkommenheit“, sagte der andere.
„Ja, das passt.“
„Und wenn man dann bedenkt, dass Gold ein Zeichen für Ewigkeit ist.“
„Vollkommenheit, die gibt’s aber doch gar nicht“, sagte der andere.
„Bei uns nicht. Die ist ’ne Dimension des Himmels.“
„Warum redet man dann so viel darüber?“
„Weil wir Himmlisches anstreben. Ist ja auch gut so. Täten wir das nicht, würden wir nie so viel Supergutes hinkriegen.“
„Aber was hat den Künstler James Bee Byars geritten, einen ganzen Raum aus Gold zu schaffen?“
„Der hat noch mehr getan. Kurz vor seinem Sterben legte er sich todkrank mitten hinein. Kannst du die fünf Kristalle da unten erkennen?“
„Ja, was ist damit?“
„Die hat seine Galeristin genau da ausgelegt, wo er lag. Als sie ihm wieder auf die Beine half, sagte er, er habe sich da unten in den Tod eingeübt. Hat sich also mit himmlischer Vollkommenheit und Ewigkeit beschäftigt.“
„Das könnten wir auch machen. Am besten mitten im Leben.“
„Los, packen wir’s!“ 

Windiges Vorurteil

„Die ist doch völlig willenlos“, sagte der Wind zur Wolke.
„Wer?“
„Die Mühle da unten. Bei der muss ich nur mal etwas lauter atmen, und schon macht die was ich will: läuft und läuft und läuft. Eine wie die hat echt das Zeug zum Mitläufer.“
„Träum weiter“, sagte die Wolke. „Mitläufer finden jede Richtung okay, aber sie stellt sich dir entgegen und macht Energie aus deiner Kraft.“

Den Himmel streicheln

Wie einer,
der auf Erden nichts verloren hat,
zieht’s ihn nach oben, sein Leben lang.
So hager seine Arme,
dass der Sonne Schattenmaler
sie kaum zeichnen kann.
Als wollte er den Himmel streicheln,
streckt der Ginster
sich mit grünen Armen dem Blau entgegen.
Und fegt der Wind über ihn hinweg,
neigt und erhebt er sich wie einer,
der angekommen,
schwingt mit athletischer Gestalt
sanft im Takt, den der Himmel ihm gibt.

Einer holt euch da runter

„Glaubt nicht, dass ihr da ewig herumflattern könnt“, sagten die Schmetterlinge im Bauch zu den Tüchern an der Leine. „Irgendwann holt euch da einer runter. Da hat’s unsereins besser: Selbst wenn wir uns längst verzogen haben, flattern wir in den Erinnerungen immer weiter und weiter.“ ?

Schattengesellschaft

„Was sind das für Leute, die da bei dir im Schatten stehen?“, fragte die Sonne den Sonnenschirm.
„Das sind die, für die es auf der Sonnenseite nicht weiter ging.“
„Auf die Dauer wird es denen bei dir aber zu kühl und zu dunkel.“
„Theoretisch ja, praktisch nein. Hier gehen ihnen nämlich ein paar wärmende Lichter auf.“
„Wie das?“
„Bei mir entdecken Sie ihre Freunde.“
„Und wer sind die?“
„Die, die auch im Schatten bei ihnen bleiben.“ ?