Du musst sie lieben

Oh Nacht, 
du musst sie lieben, 
all die Halme und Sprosse,
die ihr Ich kaum erfahren,
im Wir ein Leben lang 
Weide sind. 
Hast für sie
in lichtfernen Stunden 
deine Schätze 
aus nachtkühlen
Schatullen geholt, 
jeden Halm, jeden Spross 
mit deinem Tau geziert. 
Einen prachtvoller 
als den anderen. 
Und wenn der Tag 
zur Wachablösung 
dir gute Nacht gesagt, 
ist’s, als hättest du 
dein diamantenes Kleid 
abgestreift, 
damit des Morgens Sonne 
ihre eigne Pracht
in der Weide 
glitzerndem Gewand 
erkenne. 

Nachtgewand

Mit weißem Himmelsstaub
bedeckt der Winter 
Bäume, Felder, Dächer, 
reicht dem Jahr 
das Nachtgewand, 
will uns führen 
zur Traumesstille, 
aus der wir 
hellwach blicken auf das, 
was kommen mag. 

Ruhe im Gestrüpp

„Ich finde, das steht dir nicht“, sagte das Gestrüpp.
„Was?“, fragte der Reifen.
„Hier so rumzustehen.“ 
„Musst du gerade sagen. Kommst doch auch nicht von der Stelle.“
„Ist ja auch nicht meine Aufgabe“, sagte das Gestrüpp, „aber deine schon.“
„Wieso?“
„Bewegte Typen wie du müssen rotieren. Hast wohl noch nie gehört, was andere so sagen.“
„Nee, was denn?“
„Dass der Weg das Ziel ist.“
„Aber wenn das immer so ist, komme ich ja nie zum Innehalten.“ 
„Ja und? Was haste denn davon, unbewegt hier rumzustehen?“
„Jetzt, wo ich stehe, fühl ich mich wie noch nie. Ganz bewegt.“
„Wie das denn?“
„Weil ich erst im Ruhemodus merke, wo ich stehe. Und was ich hier sehe, finde ich wunderschön.“ ?

Das gefundene Fressen

„Wenn ich diesen Typen nur sehe. Ich könnte den“, sagte der eine Grashalm zum anderen.
„Wen?“
„Den blöden Reiher.“
„Der ist gar nicht so blöd.“
„Ach, komm! Der beachtet uns doch gar nicht. Und wie der geht. Der schreitet doch nur. Wie einer, der ’n Besenstiel verschluckt hat. Total arrogant, dieser Typ.“
„Weiß nicht.“
„Guck dir doch mal dieses Selbstbewusstsein an!“
„Seh ich ja.“ 
„Na also.“
„Aber Arroganz sieht anders aus.“
„Wie denn?“
„Zum Beispiel wie endlos wirkendes Selbstbewusstsein trotz völliger Ahnungslosigkeit. Aber dieser Typ blickt durch. Der weiß, wie er was in den Schnabel kriegt, bevor es die Flucht ergreift: nur vorsichtig staksend.“
„Mir ist die Kuh trotzdem lieber.“
„Warum?“
„Die schaut einen immer so nett an.“
„Klar, weil wir ihr gefundenes Fressen sind.“ ?

Ziemlich schräg

„Ist ja nicht mit anzugucken“, sagte die Weide.
„Was?“, fragte der Baum.
„Dieses schräge Etwas da. Und sowas nennt sich Zaun.“
„Was haste denn gegen den?“
„Musst du gerade fragen, so aufrecht wie du bist“, sagte die Weide. „Ich find’s ätzend, wenn sich einer so hängen lässt. Das ist doch keine Haltung.“ 
„Nu lass mal gut sein“, sagte der Baum, „der Zaun ist ja nicht nur ’n Zaun.“
„Ach nee, was denn noch?“
„Ne Gemeinschaft.“ 
„Was denn für ’ne Gemeinschaft?“
„Eine aus Pfählen und Latten. Und ich frage mich immer, wie die es schaffen, seit ewigen Zeiten zusammenzuhalten.“
„Mir geht da was durch’n Kopf“, sagte die Weide.
„Und?“
„Vielleicht können sich am besten die Halt geben, die viel voneinander halten.“

Der Angstmacher und die schöne Grazie

„Irgendwie beneide ich den ja“, sagte die Kornblume.
„Wen?“, fragte das Gras.
„Den ollen Stacheldraht.“
„Wieso?“
„Weil der nie Angst haben muss, dass seine Zeit bald vorbei ist. Steht ewig an seiner Kuhweide, und jeder hat vor ihm Respekt.“
„Respekt?“, sagte das Gras, „höchstens Angst. Und das gilt auch nur für Rindviecher.“
„Meinste?“
„Klar, wenn hier einer mutig ist, dann eher du.“
„Du spinnst.“
„Nee“, sagte das Gras, „Viel mehr Angst hat doch der, der sich fürchtet, sie zu zeigen. Aber du erzählst mir von deinem Fracksausen.“
„Aber er sieht so mächtig aus mit seinen Stacheln.“
„Mag sein, mehr Macht hat aber einer, der Freude macht.“
„Wie das?“
„Ja, guck dich doch mal an. Alle, die dich sehen, kriegen strahlende Augen. Die bleiben stehen, selbst wenn sie es eilig haben. Und weil sie noch länger was von dir haben wollen, nehmen sie dich als Foto auch noch mit nach Hause.“ ?

Hasenlogik

„Mal ganz kurz ’ne Frage, bevor du gleich wieder losrennst“, sagte das Gras zum Hasen: „Kann es sein, dass du ’n Problem mit Nähe hast?“
„Wie kommste denn darauf?“
„Weil du rennst was das Zeug hält, sobald dein bester Freund hinter dir her ist.“
„Wir waren doch gerade noch zusammen. Ganz viel und ganz innig.“
„Und warum haste dann das Weite gesucht?“
„Um das Schöne nicht zu zerstören.“
„Hee? Versteh ich nicht.“
„Ist aber ganz einfach: Je weiter er weg ist, desto doller wünsch ich mir seine Nähe. Und er sich meine.“ ?

Ich hänge doch an dir

„Lass mich los!“, flehte das Laub.
„Weh doch einfach weiter“, sagte der Weidezaun.
„Wie denn?“
„Du bist herangeweht, da wirste ja wohl auch wieder wegwehen können.“
„Schön wär’s. Ich häng doch an dir.“
„Wirklich? Oh, du liebes flatterhaftes Laub, Schöneres hättest du mir kaum sagen können.“
„Willst mich wohl auf den Arm nehmen.“
„Ne, will dir nur Halt geben.“
„Wieso denn?“
„Weil ich nicht will, dass du auf den Boden segelst und vermoderst. Außerdem, irgendwie glaube ich, mich durchaus an dich gewöhnen zu können.“
Zärtlich um des Zaunes Spitzen tanzend sagte das Laub: „Ich glaube, ich mich auch an dich.“
„Wie schön, aber dann lass uns aufpassen, dass das Schöne nicht zu gewöhnlich wird.“ 

Du und der Himmel

„Boah, ist das hier schön“, sagte das schwarze Schaf zum weißen, „fast wie im Himmel.“ „Du nun wieder. Aber ist ja klar, dass du sowas sagst.“
„Wieso?“
„Weil du nur ans Fressen denkst.“
„Dir schmeckt es doch auch.“
„Aber Typen wie du fressen unsereins die schönsten Weiden leer.“
„Was für Typen?“
„Typen, die anders sind. Guck dich doch mal an.“
„Hast recht, wenn ich uns so anschaue, muss ich immer an den Himmel denken.“
„Bist du bekloppt?“
„Nein, überleg doch mal. Da ist Multikulti doch total normal.“ ?

Völlig ausgeflippt

„Bist ja völlig ausgeflippt“, sagt die Unerfahrenheit zum Übermut. „Das wirste noch bereuen.“
„Bereuen? Glaub ich nicht“, sagt der Übermut. „Ich liebe Luftsprünge. Wenn ich oben bin, kann ich den Horizont sehen. Und zwischen dem und mir liegt ne große schöne Welt.“