Entblößt

Ich entdeckte ihn in der Fußgängerzone. Schon von Weitem war ihm anzusehen, dass etwas nicht stimmte. Oft bewunderte ich den alten Herrn wegen seines schlagfertigen Humors. Auch wegen seiner Augen, die so charmefunkelnd erzählen konnten. Aber an diesem Vormittag sahen sie aus, als hätten sie das Leben noch nie blühen sehen. Dann entdeckte er mich in der Menge. Im Nu kam ihm ein Lächeln, aber kein ansteckendes. Es wirkte geborgt. Als ich ihn fragte, wie es ihm gehe, schaute er zur Seite. Er wusste genau, dass meine Frage keinen Smalltalk startete. Er brauchte drei, vier Sekunden, dann sah er mich an. Nur kurz, aber das feuchte Schimmern seiner Augen war nicht zu übersehen. Dann seine Antwort: „Man fühlt sich halt allein.“ 

Mir war klar, was er meinte, denn nach dem Tod seiner Frau haben wir uns oft darüber unterhalten. Es ist die Art seiner Formulierung, die mich berührte. Seine Aussage hatte es nämlich in sich. Mir kam es so vor, als habe dieser liebenswerte Typ es vorgezogen, sich persönlich möglichst außen vor zu lassen. Denn er sagte mir nicht, wie er sich fühlte, sondern wie man sich fühlt. Das Wort „Ich“ wäre wohl zu schmerzhaft geworden.

Dabei ist das Alleinsein kein Gefühl, es ist ein objektiver Zustand. Wenn ich mich ohne einen anderen Menschen in einem Zimmer befinde, bin ich allein. Das kann wohltuend sein. Einsamkeit hingegen ist ein subjektives Gefühl. Das kann einem im Konzertsaal ebenso heftig zu schaffen machen wie auf einer Party. Und zutiefst auch in einer Partnerschaft.

Dr. Caroline Bohn beschäftigt sich als Soziologin in Witten-Herbede wissenschaftlich mit diesem Thema. In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ sagte sie, wer einsam sei, schäme sich oft dafür. So jemand habe schnell das Gefühl, nicht richtig zu sein, nicht zu genügen, nicht der gesellschaftlichen Norm zu entsprechen. Und wer sich schäme, werde einsam, „weil Scham das größte Tabuthema überhaupt ist.“ Selbst vertrautesten Menschen könne so jemand nicht von seinen Schamgefühlen erzählen. 

Das ist ein Dilemma. Einsamkeit kann ebenso Scham erzeugen wie der erste Weg durch die Stadt im Rollstuhl, wie die schiefe Bahn des eigenen Sohnes oder die Enkelkinder, die man ersehnt aber nicht bekommt. Darauf will kaum jemand angesprochen werden. Das erzeugt Peinlichkeit, und sie drückt den Schmerz, die Pein aus, die mit der Scham einhergeht.

Scham ist immer Stress. In solchen Momenten schüttet der Körper das Hormon Cortisol aus, die Blutgefäße weiten sich, die Hände werden feucht, das Gesicht wird rot. Wer Scham empfindet, sieht sich entblößt. Er blickt auf seinen Makel und glaubt, die Öffentlichkeit stiere erbarmungslos genau auf diesen Bereich. Und je größer die Zahl der Zeugen der Scham, desto immenser das Schamgefühl. Es gibt dann nur noch einen Wunsch: im Erdboden zu versinken, dort, wo einen niemand sieht.

Nicht zuletzt in Sozialen Medien entsteht häufig der Eindruck, viele Menschen hätten sich ihr Schamgefühl abtrainiert. Aber sie sind nicht zu beneiden, denn sie sind unverschämt. Ihnen fehlt der Seismograf, der ihnen sensibel anzeigt, wann das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung, Respekt und Zugehörigkeit ignoriert wird.

Das elfte Gebot

OM-Medien-Kolumne April

Manchmal sieht es so aus, als hätten wir den Zehn Geboten im Laufe der Zeit ein elftes untergeschoben. Das lautet: „Du sollst nicht leiden.“ Schließlich ist es uns gelungen, nach und nach die härtesten Knochenjobs verschwinden zu lassen. Die erledigen – zumindest in der westlichen Gesellschaft – Maschinen für uns. Die meisten körperlichen Schmerzen ersticken wir durch Medikamente im Keim, seelische bezwingen wir mit Beruhigungsmitteln und Antidepressiva. Unsere Lebensumstände werden also immer geschmeidiger. Könnte man meinen. Tatsache ist aber, dass immer mehr Menschen in eine Krise geraten. Sie zweifeln an der Welt und auch an sich. Das belegen Studien der Universität Innsbruck. Sie zeigen, dass sage und schreibe 23 Prozent der 18- bis 29-Jährigen unter einer Sinnkrise leiden. Ihre Zahl ist nicht erst in Zeiten von Pandemie, Klimakrise und Kriegen sondern bereits seit 15 Jahren rasant gestiegen.

Tatjana Schnell ist Psychologieprofessorin in Innsbruck und Oslo. Sie forscht seit über 20 Jahren zum Thema Lebenssinn. Wenn Leiden heutzutage als unzumutbar und überflüssig angesehen wird, hält sie das für problematisch, „weil wir damit den Zugang zu einer zutiefst menschlichen Dimension verlieren.“ In ihren Augen ist es erforderlich, das Leiden zu akzeptieren und ihm auf den Grund zu gehen. Vor allem dadurch werde in der Sinnkrise ein klarer, ernüchterter Blick auf das Leben und auf die eigene Person möglich, sagt sie in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Gewiss seien derartige Selbstvergewisserungen schmerzhaft, aber auch im wahrsten Sinne des Wortes notwendige Prozesse. Denn wenn eine Not entstanden sei, könne die Krise die Not wenden. 

Tatjana Schnell zitiert in diesem Zusammenhang den Philosophen Søren Kierkegaard.  Er unterscheidet zwischen den Begriffen „Leid“ und „leiden“. Denn das Leid widerfahre uns, zu leiden hingegen sei unsere Art des Umgangs damit. Leiden ist also eine Aktivität. Das heißt – so zynisch das klingen mag -, wir können unsere Haltung zum Erlittenen hinterfragen und korrigieren. 

Wer in einer Sinnkrise steckt, fühlt sich allein. Und das selbst dann, wenn er um die hohe Zahl derer weiß, die Ähnliches erleiden. Das liegt daran, dass kaum jemand über persönliche Krisen spricht. In solchem Vertuschen entsteht der Eindruck, der Rest der Welt halte das Leben für leicht und so präzise planbar, dass ihm nichts in die Quere kommen kann. Wer das nicht schafft, schlägt sich mit einem ramponierten Selbstwertgefühl durch seine Zeit.  

Üblich ist es in solchen Situationen, sich beruflich extrem ins Zeug zu legen. Auch für den Preis, dass man sich heftig verbiegt. Das wird in Kauf genommen, um Anerkennung zu erhalten und den eigenen Wert aufpoliert zu sehen. Aber verbogen kann keiner mehr aufrecht gehen. Hilfreicher finde ich den Vorschlag des japanischen Philosophen Ichiro Kishimi. In seinem Bestseller „Du musst nicht von allen gemocht werden“ antwortet er auf die Frage, wie um alles in der Welt man es schafft, das Gefühl zu gewinnen, dass man Wert hat: „Es ist recht einfach. Wenn man weiß, dass man etwas Positives zur Gemeinschaft beiträgt, kann man sich wahrhaft als wertvoll empfinden.“ Also nicht darauf aus sein, von anderen als „gut“ beurteilt zu werden, sondern aus der eigenen subjektiven Sicht zu erleben, dass man zum Wohl anderer etwas beiträgt.

Diese Wut tut mir gut

OM-Medien-Kolumne März

Manchmal glaube ich, dass meine Urgroßmutter mit ihrer Weltsicht gar nicht so daneben lag. Sie ist zwar schon gestorben, bevor ich geboren wurde, aber ein paar ihrer Sätze wurden bis zu mir weitergereicht. Einer lautet: „Es ist kein Übel so groß, als dass nicht auch ein kleiner Nutzen dabei wäre.“

Mit Blick auf das Leid, das Putin anrichtet, klingt dieser Satz verboten zynisch. Und doch bringen mir genau diese Schreckensszenarien eine Klarheit, die ich so zuvor nicht hatte. Begriffe wie „vergeben“ und „versöhnen“ sehe ich in neuem Licht. Mag sein, dass sie in Anbetracht der aktuellen Weltlage ein wenig wie das romantisierende Vokabular einer christlichen Verklärtheit klingen. Im Umgang mit einem, der keinen Frieden sondern den Krieg will, wirken Begriffe wie Versöhnung und Vergebung wie Kanonenrohre aus Marzipan. Sind da nicht Wut, Hass und Revanche viel wirkungsvoller?

Könnte man meinen. Mit der Wut kann ich mich anfreunden. Sie gibt mir die Kraft, mich vom Gegner innerlich zu distanzieren. Ist mir das gelungen, kann ich den Ehrgeiz entwickeln, mich nicht kaputt machen zu lassen. Aber Hass und Revanche sind erschöpfend. Weniger für den den Gegner als für mich selbst. 

Während Putin versucht, die Welt aus den Angeln zu heben, erscheint es wichtiger denn je, dass wir in unseren ganz privaten Mikrostaaten Haltung üben. Auch uns ist so manches Mal danach, uns gegenüber wem auch immer zu munitionieren, weil uns jemand übel mitgespielt hat. Klar, wenn es gerade so richtig weh tut, liegt Vergebung ferner als der Mond, aber Vergebung bedeutet nichts anderes, als dass ich die Verletzung, die mir jemand zugefügt hat, weggebe, dass ich sie beim Gegner lasse. Das geht nicht einfach so. Der Benediktinermönch Anselm Grün sagt dazu sinngemäß: Wenn ich meine Wut zugelassen habe, kann ich versuchen zu verstehen, warum der oder die andere mich attackiert. Womöglich hat so jemand seine eigene Verletzung weitergegeben. Sobald ich das durchschaue, durchschaue ich auch mich, und der Angriff tut nicht mehr so weh.

Fürs Vergeben brauche ich keine Hilfe. Das kann jeder allein. Versöhnung hingegen kann nur zwischen zwei Personen funktionieren. Und die ist in unserer immer mehr gespaltenen Gesellschaft elementar wichtig. Ich glaube, wir dürfen uns nicht mit diesem größer werdenden Spalt abfinden, denn er ist ein Spalt von Menschen, die in sich gespalten sind. 

Vor drei Jahren bin ich auf den russischen Schriftsteller Michail Schischkin aufmerksam geworden. Mit seinem Freund, dem früheren WDR-Intendanten Fritz Pleitgen, war er zu einer Lesung in den Kulturkreis Visbek gekommen. Schischkin hat als Einziger alle drei wichtigen Literaturpreise Russlands gewonnen. Vor ein paar Tagen sagte er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung etwas, das mich klarer auf Putin und das Volk schauen lässt, das ihm hörig zu sein scheint: „Die meistem Russen leben noch im mittelalterlichen Weltbild: Das heilige Russland ist vom Ozean der Feinde umzingelt, und nur der Zar im Kreml kann uns retten. Diesen Patriotismus haben Generationen von Diktatoren missbraucht. Und nun glauben die mobilisierten Russen, ihre Heimat vor Faschisten aus der Nato zu verteidigen.“

Aber wie ist das heute noch möglich? Wenn ich mir den Namen Putin genau anschaue, stelle ich fest, dass er Programm ist. In Putin steckt Input. Und mit seinem verbrecherischen Input füttert er die Gehirne und Herzen seines Volkes. Indem ich das begreife, begebe ich mich auf den Weg, russischen Soldaten zu vergeben. Und das tut mir gut.

Ich fing an zu brennen

OM-Medien-Kolumne Januar

Am liebsten hätte ich ihm gesagt, er solle sich vom Acker machen. Aber wer sagt das schon zum eigenen Chef. Stattdessen ertrug ich ihn. Direkt hinter mir stehend. Von dort sah er mir über die Schulter, sagte nichts, während ich am Leuchttisch sitzend versuchte, ein Buchcover so zu gestalten, dass er es akzeptieren konnte. Er sagte ewig nichts, bewegte sich nicht. Dieser sonst so dauergestresste Mann schien was genommen zu haben. Plötzlich die Finger seiner linken Hand auf meiner Schulter. Es muss die linke gewesen sein, denn die rechte war ja nur dazu da, das ewig glimmende Licht einer Ernte 23 zu halten. Dann murmelte er etwas, das mir nicht entgehen sollte: „Hätte ich nicht so gut hingekriegt.“ Sechs Wörter, die in mir Feuer legten. Ich fing an zu brennen. Für meinen Job als Layouter, in dem ich vor Jahrzehnten tätig war, und auch für ihn. Nie zuvor hatte ein Lob so viel in mir bewirkt. Warum jetzt? Weil dieser Mann ansonsten mit Lob so sparsam umging wie ein Betrüger mit der Wahrheit. 

Okay, vielleicht ticke ich diesbezüglich ja etwas speziell. Wenn aber stimmt, was ich kürzlich zum Thema las, muss ich mir kaum Sorgen machen. Lob sei so etwas wie ein Hauptnahrungsmittel des Ichs, erfuhr ich da. Und der Schriftsteller Mark Twain brachte es auf seinen ganz persönlichen Punkt, indem er zugab: „Von einem richtig guten Kompliment kann ich zwei Monate leben.“ 

Oliver Dickhäuser, Psychologe an der Uni Mannheim, sagt: „Wir wissen, dass von den Faktoren, die zu Erfolg führen, Lob zu den stärksten gehört.“ Fragt sich nun, wieso das Lob ein so mieses Image hat? Manchmal kommt es mir so vor, als sei der Satz „Nicht gemotzt ist genug gelobt“ einer aus den Zehn Geboten. Zugegeben, so manch lobende Worte wirken in mir wie gammelnde Forelle auf nüchternen Magen. Immer dann, wenn mir einer mit Engelszunge Charmantes einzuhauchen versucht, das nach höllischem Ursprung mieft. Auch dann, wenn Lob und Komplimente wie mit der Gießkanne verteilt werden. Da fällt mir ein Satz von Peter Henningsen, Chefarzt an der Technischen Universität München, ein. Er sagt: „Pauschales Dauerloben ist eine Form der Vernachlässigung durch Verwöhnen.“ Der Mann spricht mir aus der Seele.

Andererseits versuchen unzählige Arbeitnehmer damit klarzukommen, noch nie von ihrem Chef oder ihrer Chefin gelobt worden zu sein. Ihnen fehlt Anerkennung, Wertschätzung und das Gefühl, wahrgenommen zu werden. Klar, dass alle, die eine Chance sehen, so Elementares woanders zu finden, gehen.

Heute, am 21. Januar, kann es passieren, dass man mehr wahrgenommen wird, als man verkraften kann. Heute ist nämlich Weltknuddeltag. Im Ernst. Und der ist keine neumodische Erfindung. Der US-amerikanische Pfarrer Kevin Zaborney hatte 1986 die Idee dazu. Er meinte, in der kalten Zeit zwischen Weihnachten und Valentinstag bräuchte die Menschheit Wärme. Sein Plan war es nicht, einander wahllos liebkosend anzufallen, sondern einander in der Öffentlichkeit achtsam näher zu kommen.

Ich glaube, das brauche ich nicht. Was ich allerdings schlecht lassen kann, ist, zu sagen, wenn mich etwas bei wem auch immer begeistert. Dann bekomme ich nämlich auf der Stelle etwas geschenkt: das freudige Lächeln meines Gegenübers. Wenn’s mir vorher nicht so besonders gut ging, danach garantiert. Ich glaube, die Erleuchtung kam mir diesbezüglich einst am Leuchttisch.

Einfach mal warten

OM-Medien-Kolumne Dezember

Würde mich nicht wundern, wenn die Betreiber von Christbaumkulturen just dabei wären, ihre brancheneigene Hymne zu entdecken. Ich höre schon wie sie singen: „O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie früh sind deine Käufer.“ Eine Umfrage des Portals Statista ergab nämlich nicht nur, dass Menschen in Deutschland ihren Weihnachtsbaum immer früher kaufen. Mehr als die Hälfte stellen ihn auch lange vor Heiligabend in ihrer Wohnung auf: bereits Anfang bis Mitte Dezember.

Von wegen warten aufs Christkind. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich am Nachmittag eines Heiligabends im kleinen Lloyd unserer Nachbarn landete. Mein Vater hatte mich da reingeschoben. Da saß ich neben Maria, Bernhard und Hermann-Josef. Das waren die Kinder von nebenan. Am Steuer saß ihr Vater, den ich dafür bewunderte, wie er als Kriegsversehrter mit seinem Holzbein so prima Gas geben konnte. Wir fuhren nicht weit. Nur bis zum Christkindchenweg in Cloppenburg. Dort stiegen wir aus, liefen durch den angrenzenden Wald und waren uns sicher, irgendwo dort das Christkind zu entdecken. So richtig sehen konnten wir es nicht. Das lag aber nur am Dickicht und an der aufkommenden Dunkelheit. Doch wir fühlten es. Ganz genau. Zurück zu Hause gab es keine Zeit mehr, über dieses mystische Erleben nachzudenken. Ein Glöckchen erklang, und ich war wie geplättet, als ich den funkelnden Tannenbaum im Wohnzimmer erblickte.

Schnee von gestern? Nein, von vorvorgestern. Sentimentaler Schneematsch könnte man sagen. Heute herrschen andere Temperaturen. Die werden von einer Konsumwelt bestimmt, in der das geduldige Abwarten nicht gut ankommt. Kunden sollen nicht warten. Ihre Wünsche sollen auf der Stelle in Erfüllung gehen. Gewissermaßen tun sie das sogar bei Online-Bestellungen, denn da passiert sofort etwas. Auf dem Handy ist genau zu sehen, wie oft wir noch schlafen müssen, bis der Paket-Engel zu uns kommt. Oft nur bis zum nächsten Tag. Per Handy kann man sogar seine Flugroute erkennen und exakt mitverfolgen, wann er vor der eigenen Haustür aufsetzt. Und schon hat man seine Bescherung.

Auch politisches Warten kommt schlecht an. Manche Staatsmänner und -frauen sitzen die brennendsten Themen dennoch ewig lange aus, bevor sie anfangen, sich zu bewegen. Kohl beherrschte das, Merkel lernte es von ihm und Scholz praktiziert es auch. Solche Persönlichkeiten scheint es nicht zu kratzen, wenn Gegner sie

als Zauderer an den Pranger stellen. Das liegt daran, dass sie begriffen haben: Friede auf Erden ist nicht mit einem Mausklick zu ordern, wohl aber mit einer falschen Bewegung zu sprengen.

Beharrliches Warten wird oft mit lethargischer Rumsitzerei verwechselt. Dabei ist das Abwarten und dann die richtigen Fäden zu ziehen, eine Lebenskunst. Dem US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr war das bewusst, als er in den 1940er Jahren schrieb: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Ein großer Wunsch, für dessen Erfüllung wir selbst etwas tun müssen. Der Advent kann uns helfen. Sein Name kommt vom lateinischen Wort Adventus, das Ankunft heißt. Gemeint ist die Ankunft des Kindes, dessen Geburt wir Weihnachten feiern. Indem wir hin und wieder in adventlicher Stille warten, kann etwas Seltenes passieren: dass wir bei uns selbst ankommen.

Im engsten Familienkreis

OM-Medien-Kolumne Oktober

In gewissen Situationen kann man einen recht gewöhnlichen Satz wie eine kalte Dusche empfinden. Zum Beispiel diesen: „Die Beisetzung hat im engsten Familienkreis stattgefunden.“ Meistens kann ich diesen Satz ignorieren. Nicht jedoch, wenn ich beim Zeitunglesen völlig unvorbereitet in einer Todesanzeige auf den Namen eines Menschen stoße, der mir wichtig war. In solchen Momenten wird mir schlagartig klar, dass mir nichts mehr möglich ist. Kein letztes Gespräch, nein, nicht einmal das, was der Volksmund als letzte Ehre am noch offenen Grab bezeichnet. Dass die Anzeige mir nicht verrät, wann die Trauerfeier stattgefunden hat, kann ich dann irgendwie noch schlucken. Aber wenn sie nicht einmal den Beisetzungsort preisgibt, kommt ein flaues Gefühl auf. Warum? Weil es mir wichtig ist, jederzeit die Möglichkeit zu haben, das Grab eines Menschen aufzusuchen, der mir nahestand. 

Mir ist schon klar, dass kaum einer den zitierten Satz mit ausgrenzender Absicht formuliert. Corona hat ihn uns einst diktiert, und wir haben uns weitenteils an ihn gewöhnt. Doch genau das sollten wir nicht tun, jetzt, wo Corona auf Beerdigungen längst nicht mehr so viel zu sagen hat. Natürlich kann man todverachtend über formalisiertes und ritualisiertes Trauern lächeln, aber das Wort von der letzten Ehre war, ist und bleibt ein wertvolles Wort. Denn auch wenn man die Niedergeschlagenheit der Angehörigen nicht teilt, ehrt man so den Verstorbenen und die, die um ihn trauern. Und noch etwas: Neben dem frischen Erdhügel verharrend, stehen Zeit und Leben ein paar Atemzüge lang still. Man taucht für Sekunden in sich selbst ein und spürt die eigene Seele, die ihre Endlichkeit begreift. 

Die nun beginnenden Novembertage stehen kalendarisch nicht nur für eine Kultur der Trauer, auch – und nicht zuletzt – für Erinnerungen und hoffnungsvolle Gedanken. Eigentlich bräuchte ich den November nicht. Gewissermaßen begehe ich ihn in Momenten jeglicher Jahreszeiten. Immer dann, wenn mir ein Mensch in den Sinn kommt, der vielleicht schon 30, 40 Jahre tot ist. Manchen von ihnen bin ich nur selten begegnet. Dennoch erkenne ich sie als Baumeister und -meisterinnen dessen, was ich bin. Sie haben einst etwas gesagt oder getan, das mich aufhorchen ließ. Manches hat mich so beeindruckt, dass ich es mir nie merken musste: Es hat sich in meine Erinnerungen geritzt. Und nicht nur das: Ihr Denken, ihre Äußerungen, ihre Art zu leben haben mich angesteckt. So, dass ich mich an ihrem Wesen noch heute orientiere.

Manchmal denke ich, wie wunderbar es doch wäre, wenn sie mitbekämen, welche Rolle sie nach all der langen Zeit für mich noch immer spielen, wenn sie wüssten, dass sie in mir präsent sind, und dass ich mir einen Teil ihres Seins abgekupfert habe. Ich fühle mich bereichert, wenn mir bewusst wird, wie sehr diese längst verstorbenen Männer und Frauen in mir ihr Leben führen. Und ich empfinde Dank. 

Das Wort „Dank“ hat seinen Ursprung übrigens in dem Wort „Denken“. Die Etymologie beschreibt es als das „Denken an eine empfangene Wohltat.“ Ein Grab kann einen bei solcher Denkerei prima unterstützen. Aber nur, wenn man weiß, wo man es findet.

Ich durfte mitmachen

Sehr persönliche Gegenstände sind es, die Menschen auf ihrer letzten Reise mitführen möchten. Sie sind in einer Ausstellung des Kulturbahnhofs Cloppenburg zu sehen.
Was ich auf meiner letzten Reise bei mir haben möchte, sind außer einem Stift und einem Heft für Notate ein paar tote Begleiter. Wer die sind, das habe ich für die Ausstellungsbesucher aufgeschrieben. Zu lesen ist es an der Wand neben meinem Koffer. Und hier.

Was ist wirklich wichtig? Was bleibt am Schluss? Was nehme ich mit? Sich diesen Fragen zu stellen ist nicht einfach. Das Cloppenburger Hospiz wanderlicht konfrontiert eine Reihe von Menschen aus der Region dennoch ganz offensiv mit diesen Fragen. wanderlicht lud Menschen unterschiedlichster Herkunft ein, ihren ganz persönlichen Koffer für ihre letzte Reise zu packen. Die Koffer sind in einer Ausstellung des Kulturbahnhofs Cloppenburg zu sehen. Ihre Inhalte sind so unterschiedlich wie die Männer und Frauen, die sie aus ihren unterschiedlichen Biografien heraus und mit ihren ganz persönlichen Träumen und Weltanschauungen zusammengesucht haben.

Ich freue mich sehr darüber, dass die Initiatoren der Ausstellung auch mich eingeladen haben, meinen Koffer zu packen. Da ich mich mit diesem Thema schon häufig auseinandergesetzt hatte, musste ich kaum eine Sekunde lang darüber nachdenken, womit ich meinen Koffer füllen würde. Was ich auf meiner letzten Reise bei mir haben möchte, sind außer einem Stift und einem Heft für Notate ein paar tote Begleiter. Und wer die sind, das habe ich für die Ausstellungsbesucher aufgeschrieben. Zu lesen ist es an der Wand neben meinem Koffer und hier:

Meine toten Begleiter

Ich habe so einige tote Begleiter. Einige von ihnen sind bereits vor 30, 40 Jahren gestorben. All diese Menschen sind für mich viel mehr als eine schöne Erinnerung. Sie sind Baumeister und -meisterinnen dessen, was ich bin. Sie haben einst etwas gesagt oder getan, das mich aufhorchen ließ. Manches hat mich so beeindruckt, dass ich es mir nie merken musste: Es hat sich in meine Erinnerung geritzt. Und nicht nur das: Ihr Denken, ihre Äußerungen, ihre Art zu leben haben mich angesteckt. So, dass ich mich an ihrem Wesen noch heute orientiere. Das will ich auch auf meiner letzten Reise tun, mich an ihnen orientieren. Darum nehme ich sie mit.

Immer wieder kommt mir in den Sinn, wie wunderbar es doch wäre, wenn sie mitbekämen, welche Rolle sie nach all der langen Zeit für mich noch immer spielen, wenn sie wüssten, dass sie in mir präsent sind, und dass ich mir einen Teil ihres Seins für mich abgekupfert habe. Ich fühle mich bereichert, wenn mir bewusst wird, wie sehr diese längst verstorbenen Männer und Frauen in mir ihr Leben führen. 

Elisabeth zum Beispiel. So habe ich sie nie genannt, ich habe sie zeitlebens gesiezt. Als Jugendlicher saß ich neben ihr auf dem Beifahrersitz. Wir düsten mit 170 über die Autobahn, sie hielt ihr Lenkrad einhändig, ihr Blick zielte geradeaus. Sie fragte mich, wie es nach meiner Lehre weitergehe. Ich sagte, ich fände es toll, mein Abi nachzuholen, sei mir aber nicht sicher, ob ich das schaffen würde. Mit unverändertem Geradeausblick sagte sie: „Andreas, du kannst alles, was du willst, du musst es nur richtig wollen.“ Diese Aussage war eine Dröhnung in meinem Leben. Damals fehlte es mir nämlich noch arg an Selbstbewusstsein. Und da ich große Stücke von dieser klugen bis weisen Frau hielt, verpuffte ihr Satz nicht in mir. Er wurde zum Gaspedal in meinem Leben.

Oder Gerda: Ich lernte sie in meiner Kindheit kennen, geriet aber erst vor ein paar Jahren so richtig mit ihr in Kontakt. An ihrem Kaffeetisch sagte sie mir, dass sie bald sterben müsse. Ich war geplättet. Nicht nur wegen dieser Aussage, mindestens ebenso sehr wegen ihrer völlig gelassenen, ja, fast fröhlichen Ausstrahlung. Vorsichtig fragte ich sie, ob sie Angst habe. Sie sagte: „Nein, ich habe ja ein sehr langes und auch gutes Leben gehabt.“ Es fiel mir nicht schwer, ihr zu glauben, und ich habe die Ahnung, dass ihre Art aufs Leben zu schauen mir hilft, wenn meines mal zu Ende geht.

Und noch ein Mensch, der meinem Denken neue Farben gab: Ewald. Er war mein Kollege und erkrankte mit etwas über Vierzig schwer an Parkinson. Ich bekam sein jahrelanges Leiden mit. Oft intensiver als ich wollte. Manchmal fragte ich ihn, wie es diesmal in der Uniklinik war und wie es ihm nach der neuen Behandlung gehe. Und er, dessen Antwort ich wegen seiner schrecklichen Gesichtszuckungen kaum verstehen konnte, sagte mir: „Ach, weißt du, mir geht es gut.“ „Wie das?“, fragte ich. „Im Wartezimmer saß eine junge, richtig attraktive Frau. Sie war noch viel schlimmer dran als ich. Und da habe ich begriffen, dass es bei mir doch kaum was zu klagen gibt.“

Die Erinnerung an ihn ist für mich wie eine Brille. Sie hilft mir oft, nicht nur das zu sehen, was mich ärgert und belastet. Durch sie sehe ich auch, was mich Schönes umgibt.

Diese und noch eine ganze Reihe weiterer Menschen sind in meinem Kopf beziehungsweise Herzen. Darin haben sie mehr Raum als in jedem Koffer. Und von dort aus werden sie mir lautlos Mut machen, den Weg ins Unbekannte zu gehen. Sie alle gehören zwar meiner Vergangenheit an, aber die ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen, denn sie lebt in mir.

Er hatte keine Wahl

OM-Medien-Kolumne September

Manche Väter prägen ihre Söhne auf dramatische Weise. Laurence Gonzales hatte so einen. Sein Vater war Kampfpilot bei der US-Airforce. Als er im Januar 1945 einen Angriff auf Düsseldorf flog, wurde er in 8000 Metern Höhe abgeschossen. Seinen Fallschirm bekam er nicht zu packen. Er hatte keine Wahl, konnte nur fallen. Dennoch kam er lebend unten an. Alle möglichen Knochen waren gebrochen, aber nicht das Genick. Das war sein ungeheures Glück. 

Laurence, seinen Sohn, hielt das nicht davon ab, Kunstflieger zu werden. Später wurde er Journalist und Autor. Für seine Bücher „Deep Survival“ und „Flight 232“ erhielt er zahlreiche Preise. Die Katastrophe seines Vaters ging ihm nie aus dem Kopf. Seit Jahrzehnten forscht der 74-Jährige nach Antworten auf die Fragen: Gibt es eine Formel zum Überleben in Notsituationen? Wie trifft man dann die richtige Wahl?  

Im Interview mit Süddeutsche Zeitung sagt er, echten Überlebenskünstlern helfe ihr schwarzer Humor und die Konzentration auf das Schöne im Leben. Ebenso ihre Entscheidung zum Altruismus: „Wenn Sie sich um jemanden kümmern, der schwächer ist als Sie, werden Sie vom Opfer zum Retter.“ Das mache psychologisch einen großen Unterschied. Denn „je mehr man über jemand anderen nachdenkt, desto weniger denkt man über sich selbst und seine Probleme nach.“

Meistens haben wir die Wahl, uns so oder so zu verhalten. Die Wahl zu haben, ist ein Privileg. Das wird erst so richtig bewusst, wenn man, wie Gonzales’ Vater, keine hat. Klar, wer vor einer Entscheidung steht, steht oft auch vor einem Problem: Das kann schon am frühen Morgen aufkreuzen, beim Blick in den Kleiderschrank oder später beim Italiener, wenn sich gleich die komplette Speisekarte als Gaumenstreichler gebärdet. Noch schwieriger wird es vor fundamentalen Entscheidungen: bei der Frage, welchen Beruf ich ergreife, ob und wen ich heirate, ob ich Kinder in diese Welt setze oder wen ich am 9. Oktober in Niedersachsens Landtag wähle.

Klar, Entscheidungen können schwer fallen, vor allem dann, wenn mir nicht klar ist, was ich will. Zum Beispiel weiterhin wie gejagt über die Autobahn heizen oder alles daransetzen, dass der klimakollabierende Erdball nicht abfackelt. 

Diesbezüglich bringt Petra Pinsler in der Zeitung DIE ZEIT zwei schwierige aber merkenswerte Wörter ins Spiel: „kognitive Dissonanz“. Der Begriff kommt aus der Psychologie. Fachleute verwenden ihn, wenn das Verhalten von Menschen nicht zu ihrer Wahrnehmung passt, wenn also eine Dissonanz entsteht. Da wir keine Dissonanzen mögen, blenden wir in komplizierten Lagen gern die Wahrnehmung aus, statt neue Entscheidungen zu treffen und unser Verhalten zu ändern. Wie etwa ein Alkoholiker. Er weiß, dass er sich ruiniert, säuft aber weiter, weil er sich daran erinnert, dass Onkel Josef saufend fast 90 geworden ist.  

Manchmal mag es ja verführerisch sein, sich in Oblomow-Manier morgens gar nicht erst anzuziehen und jede Entscheidung zu verpennen. Aber bin ich dann um eine Wahl herumgekommen? Nein. Der Existentialist Sartre erklärt, wieso. Er sagt: Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt. Damit meint er: Auch wer sich um eine Entscheidung herumdrückt, hat seine Entscheidung bereits gefällt. Nämlich die, nichts zu verändern.

Sehnsucht

Ein Bild des britischen Regisseurs Isaac Julien. Gefunden im Bremer Museum Weserburg.

Manchmal, 
wenn sie ganz nah mir ist, 
glaube ich, sie zu hassen.
Kehrt sie dann endlich mir 
den Rücken zu,
entweichend in die Straßen
meiner fernsten Ziele,
fange ich an, sie zu ersehnen
und kann schon schmecken
der Sehnsucht bittersüßen Namen.

Ich frage mich, 
was ich an ihr so mag,
ist doch Erfüllung nur
der Schluss gelackter Utopie.
Wahrscheinlich ist’s der Sehnsucht Geist, 
der leis dem tiefsten Wollen sagt,
dass die Erfüllung 
meiner größten Wünsche
mich niemals macht
so glücklich wie gedacht.

So gleite ich, 
die Sehnsucht liebend,
mit der Ebbe schmerzlichen Vermissens 
ins tiefe Meer des Wollens.
Fest halte ich der Sehnsucht Hand,
spüre Glück mit ihr an meiner Seite, 
schenkt sie doch meinem Leben Ziel.
Und bleibt mein größtes auch 
für immer unerreicht,
so seh ich mit der Sehnsucht neben mir 
doch stetig Land.
Denn wäre sie nicht da,
wär es mein Untergang.
*
Dieses Foto ist das Foto von einem Foto. Das Original hat der britische Regisseur Isaac Julien gemacht hat. Ich habe es im Bremer Museum Weserburg fotografiert. Dazu schreibt das Museum: „Die Kälte des Tagungsraumes, seine strenge Fensterfront im kühlen Schwarz-Weiss vermitteln den Eindruck arrangierter Künstlichkeit. Auch die Hausangestellte wirkt wie ein Teil der sterilen Einrichtung. Aber ihre Haltung erinnert an romantische Rückenfiguren mit ihrem sehnsuchtsvollen Fernblick. Ihr Blick jedoch verliert sich in einer Vielzahl unpersönlicher Hochhäuser. Das Foto ist eine eigenständige Bilderzählung, obwohl es als Teil einer mehrteiligen Fotoserie im Zusammenhang mit Juliens Filminstallation Playtime (2014) entstand.“

Ganz plötzlich reich

OM-Kolumne August

Wenn ich will, dass Sie meine Kolumne lange im Kopf behalten, sollte ich mir ein anderes Thema suchen. Mein heutiges ist nämlich zu positiv. Denn wir suchen eher negative Infos, und wir verarbeiten sie auch schneller und intensiver als positive. Das ist wissenschaftlich belegt. „Verantwortlich dafür ist unser Steinzeithirn“, sagt die Kölner Professorin für Medienpsychologie Maren Urner. Aus evolutionspsychologischer Sicht sei dies ein Überlebensvorteil. „Denn eine verpasste negative Nachricht hat in Zeiten von Säbelzahntiger und Mammut den Tod bedeuten können.“ 

Dennoch werde ich heute nicht darüber schreiben, dass Hiroshima heute vor 77 Jahren durch eine Atombombe vernichtet wurde. Auch nicht über die beängstigenden Folgen des Klimawandels und auch nicht darüber, dass sich die Taiwan-Frage derzeit zum Großkonflikt der Großmächte USA und China hochschaukelt. Klar, wer nicht tatenlos abwarten will, bis er von einem autokratischen Säbelzahntiger neuzeitlicher Provenienz verschluckt wird, muss informiert sein. Ständiges Stieren auf solche Nachrichten hält allerdings kaum jemand aus. Es macht hilflos, hoffnungslos und depressiv. 

Wie es in dunkelsten Phasen gelingen kann, Licht in jeden Tag zu bringen, hat der britische Autor Duncan MacMillan in seinem Theaterstück „All das Schöne“ gezeigt. Die Zeitung THE GUARDIAN rezensiert: „Ein lebensbejahender Monolog über ein todernstes Thema, herzergreifend und völlig unsentimental.“ MacMillans Protagonistin ist eine Siebenjährige. Sie schreibt eine Liste für ihre depressive Mutter, die versucht hat, sich umzubringen. Auf der steht all das, was das Kind schön findet, und es hofft, dass seine Mutter diese Liste wirklich liest und nicht nur ihre Rechtschreibfehler korrigiert. 1: Eis, 2: Wasserschlachten, 3: Länger aufbleiben dürfen als sonst und fernsehen. Zehn Jahre später unternimmt die Mutter einen zweiten Selbstmordversuch. Das Mädchen wird auch als Jugendliche nicht müde, die Liste weiter zu schreiben. 823: Nacktbaden, 999: Sonnenschein. Die junge Frau geht zum Studium, verliebt sich, doch tief in ihr sitzt eine Traurigkeit, die sie sich nicht eingestehen mag. Mit dem Leben wächst die Liste, nähert sich der millionsten Eintragung. 999 997: Das Alphabet. 999 998: Eine Aufgabe abschließen. 

Duncan MacMillans Text ist ein rauschendes Plädoyer für das, was uns Mut macht. Er lässt uns sehen, wofür es sich lohnt, jeden Tag aufzustehen. Er verführt uns, die Kleinigkeiten im Leben anzuschauen und uns daran zu erfreuen, um nicht an den großen Problemen zu verzweifeln.

Was Freude bringt, kann nur jeder Mensch für sich herausfinden. Wer dabei ständig nach Großartigem sucht, muss damit rechnen, das Eigentliche zu übersehen. In der Wochenzeitung DIE ZEIT berichten Leserinnen und Leser in wenigen Zeilen über ihre Kleinigkeiten. Zum Beispiel eine Frau, die Urlaub in England gemacht hat: Nach ihrer abendlichen Laufrunde kam sie rotgesichtig und erschöpft ins Dorf zurück. Ein alter Mann im Rollstuhl lächelte ihr entgegen. Während sie an ihm vorbeihechelte, hörte sie ihn fragen: „Brauchen Sie eine Mitfahrgelegenheit?“ 

Warum sie uns das erzählt? Weil es ihr Leben ganz plötzlich reicher gemacht hat.