Wie die sich immer hervortut

„Die schon wieder“, sagte die eine Welle zur anderen.
„Wer schon wieder?“
„Die olle Boje da.“
„Was haste denn gegen die?“
„Siehste denn nicht, wie die sich immer hervortut?“
„Ich seh nur, dass sie groß und ziemlich rot ist.“
„Sag ich doch.“
„Nee, hast was anderes gesagt.“
„Quatsch, immer diese Wortklauberei. Die ist nicht nur groß und rot, die ist auch so ’n typischer Einzelgänger. Ich glaub, die genießt es richtig, sich über uns zu erheben und sich von allen anstarren zu lassen.“
„Kann auch ganz anders sein.“
„Und wie?“
„Vielleicht ist sie nicht nur äußerlich groß. Und vielleicht hat sie kapiert, dass Größe verpflichtet.“
„Wozu denn verpflichtet?“
„Richtung zu geben.“
„Aha.“
„Außerdem spür ich gerade, dass ich Einzelgänger gar nicht übel finde.“
„Wieso denn das jetzt?“
„Weil kaum einer unsere Fantasie in die Gänge bringt wie sie.“

Seelenzimmer zu vergeben

„Du bist echt zu beneiden“, sagte die Einsamkeit.
„Wieso?“, fragte die Geborgenheit.
„Weil alle Welt total auf dich abfährt. Und das nur wegen deiner Rumkuschelei.“
„Geht auch ohne.“
„Wie, ohne? Ganz ohne Anfassen und so?“
„Ja, die meisten wollen nur etwas wissen“, sagte die Geborgenheit.
„Von dir?“
„Ja.“
„Und was?“
„Dass ich in meiner Seele ein Zimmer für sie habe. Eins, in das sie immer hinein können, auch dann, wenn alles andere zu ist.“ ?

Herdendenken

„Sag bloß, du hast dich verirrt?“, sagte der Deich.
„Nee, noch nicht“, sagte das Schaf.
„Und wieso guckste dann so ratlos?“
„Weil mit uns was nicht stimmt.“
„Mit wem?“
„Mit unserer Herde.“
„Da wissen schließlich alle, wo’s langgeht“, sagte der Deich. „Einfach dem Ersten nach. Immer weiter.“
„Das ist es ja! Immer hinterm Leithammel her.“
„Ist doch okay.“
„Find ich aber nicht demokratisch.“
„So geht’s doch am besten“, sagte der Deich.
„Die Herde könnte auch den Hammel leiten“, sagte das Schaf.
„Weiß nicht. Ich glaube, du verläufst dich.“
„Nich so schlimm. Lieber auf’m Deich verlaufen als inne schräge Idee von so `nem Hammel verrennen.“ ?

Das Schlusslicht, das an erster Stelle steht

„Hab ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass ich unheimlich auf dein Rot abfahre?“, fragte der Wagen.
„Du Charmeur! Meinst doch gar nicht meine Farbe“, sagte das Schlusslicht.
„Was denn sonst?“
„Freust dich doch nur, dass es durch mich bei dir hinten nicht so oft kracht.“
„Das auch. Aber ich seh dich auch gern an.“
„Und wieso?“
„Weil du so schön anders bist als ich. Ich mag’s halt verdammt gern farbig.“
„Tut richtig gut, das von dir zu hören“, sagte das Schlusslicht.
„Ich sag doch nur, was alle denken.“
„Denken nicht alle. Manche nehmen mich gar nicht wahr. Die können nur Schwarz und Weiß sehen.“
„Ja, solche gibt’s“, sagte der Wagen, „aber die sind ganz arm dran.“
„Warum?“
„Ja, stell dir doch mal vor, wie es ist, alles nur schwarz-weiß zu sehen! Dann ist die Welt doch dort zu Ende, wo sie anfängt, in allen Farben zu leuchten.“

Hoffnung im Kornfeld

„Meinste, dass aus mir noch mal was werden kann?“, fragte die kleine Ähre.
„Wieso werden? Ist doch schon längst passiert“, sagte die große.
„Aber du bist größer. Viel größer.“
„Dafür bist du schöner. Und das mit der Größe, das kommt schon noch.“
„Woher willste das wissen?“
„Ich glaub da einfach dran.“
„Haste da immer dran geglaubt?“, fragte die kleine Ähre, „also daran, dass du groß wirst.“
„Eigentlich schon.“
„Wie, du hast nie Schiss gehabt, dass aus dir nix wird?“
„Nö.“
„Wieso nicht?“
„Hab einfach darauf vertraut. Darauf, dass ich groß werde.“
„Aber wie kann man das? Wir war’n doch alle klein. War doch weit und breit kein Großer zu sehen, der einem Hoffnung machte.“
„Nich so wichtig.“
„Versteh ich nicht.“
„Dem Korn machte doch auch keiner Hoffung.“
„Welchem Korn?“
„Deinem. Als es in die dunkle Erde gelegt wurde. Das konnte auch nicht sehen, wie schön es heute mit dir in den Himmel wächst. Es vertraute einfach. Und lebte.“

Nur ganz leis gehofft

Hatte nicht mehr daran geglaubt,
dich noch zu sehen,
nicht an diesem Abend.
Hatte nur darauf gehofft, 
ganz leis, kaum lauter 
als schläfriger Abendwind,
der die Halme streift.
Wie aus Waldes Zauberhand
entsprungen
bist du nun aufgetaucht,
sichtbar geworden,
nur weil du mich nicht siehst. 
Ich betrachte dich 
mit starren Lidern,
will dich nicht vertreiben 
aus menschenferner Blätterwelt,
erkenne in dir das Wesen, 
das nicht an gestern
und an morgen denkt, 
das den Augenblick 
liebevoll mit Aufmerksam beschenkt,
und ich begreife,
dass im Beobachten
das Achten wohnt. ?

Hasenlogik

„Mal ganz kurz ’ne Frage, bevor du gleich wieder losrennst“, sagte das Gras zum Hasen: „Kann es sein, dass du ’n Problem mit Nähe hast?“
„Wie kommste denn darauf?“
„Weil du rennst was das Zeug hält, sobald dein bester Freund hinter dir her ist.“
„Wir waren doch gerade noch zusammen. Ganz viel und ganz innig.“
„Und warum haste dann das Weite gesucht?“
„Um das Schöne nicht zu zerstören.“
„Hee? Versteh ich nicht.“
„Ist aber ganz einfach: Je weiter er weg ist, desto doller wünsch ich mir seine Nähe. Und er sich meine.“ ?

Hingucker im Halmenwald

„Hey, du bist ja ’n richtiger Hingucker“, sagte das Gras zur Blüte.
„Findste? Und ich hatte schon Angst, unangenehm bei euch aufzufallen.“
„Wieso das denn?“
„Weil ihr euch alle so herrlich ähnlich seid.“
„Herrlich ähnlich? Wohl eher genormt. Ist doch langweilig.“
„Gegen Langeweile kann man ja was tun“, sagte die Blüte.
„Was denn?“
„Sich lieben. So richtig.“
„Und dann?“
„Dann ist man verrückt. Ich meine, abgerückt. Von jeder Norm.“ ?

Im leisen Konzert des Waldes

Niemand bei mir und doch nicht allein.
Alte Gedanken treten ein,
setzen sich mir zur Seite,
untermalen die Stille 
mit ihrem Klang, 
wetteifern 
mit dem Rauschen 
des Laubes, 
führen bald das Wort. 
Ich höre ihnen zu 
wie ich es selten getan, 
höre Fragen, 
die ich oft überhört 
oder eingekerkert habe. 
Lausche ihnen 
nun freundschaftlich
im leisen Konzert des Waldes
und beschenke Gedankengäste 
mit Antworten,
die ich soeben noch gar nicht hatte.