Des Jahres Nachtgewand

Mit weißem Himmelsstaub
bedeckt der Winter 
Bäume, Felder, Dächer, 
reicht dem Jahr 
das Nachtgewand, 
will uns führn 
zur Traumesstille, 
aus der hellwach wir schaun 
auf das, 
was kommen mag.

Waldgestalten

Hab so oft schon mich gefragt,
warum ich euch so mag,
euch Waldgestalten.
Ist’s der Kiefern wilder Wuchs,
der still mir meine Starrheit zeigt,
bis Wildheit endlich auch in mir
gedeihen kann?
Ist es das kathedrale Dach der Buchen,
das meinen Blick zum Himmel lenkt
und meiner Schwere Flügel schenkt?
Oder ist’s des Farns Genügsamkeit, 
die stumm mich lehrt,
dass Leben auch auf Schattenseiten
palmengleich mit Schönheit prassen kann?

Gewiss, das alles ist‘s.
Doch im Tiefsten mich erhellt,
wenn all ihr Kiefern, Buchen, Farne euch,
vom Wind bewegt,
zum Tanz der Wälder schwingt.
So verschieden ihr auch seid,
ist Harmonie doch euer einzig Ziel,
wenn nach des Himmels Dirigat 
ihr euren Leib mal neigt, 
mal hebt, 
und der Welt vor Augen führt, 
wie Einklang geht.

Spiegel meines Glücks

Will nicht
drauf aus sein, 
mein Bild 
im Spiegel zu taxiern. 
Will meiner gewiss sein 
wie Bäume, 
die, vom Licht gemalt, 
im See sich sehn 
und doch ihr Bild 
nie achten. 
Rank und himmeltanzend, 
krumm und sturmzerzaust 
stehen sie da, 
als ob sie auf mich warten, 
wie Wesen, die wissen, 
dass gut sie mir tun, 
so wie sie sind. 
Schau ich beschenkt 
sie an, 
brauch ich den Spiegel 
nicht mehr, 
der mir nur zeigen kann,
wie ich mich seh. 
So lass ich zufrieden 
mich sein wie ich bin 
und finde, 
wenn ich dich seh, 
in deinem Blick 
den Spiegel 
meines Glücks. 

Wenn alles Licht sich verdrückt

Wenn alles Licht sich verdrückt, 
möcht ich lernen, 
wie Moos im Schatten zu gedeihn. 
Möcht in eigner Winzigkeit 
Wälderweiten finden, 
in denen sinnloses Suchen 
furchtlos sich verläuft. 
Vielleicht würdest dann du 
gern die Ameise sein, 
die in mir ihr Fleißgewand verliert 
und mit mir zusammen findet, 
was uns erdet.

Des Winters goldner Atem

Des Winters goldner Atem 
haucht der Erde Stille ein, 
durchschleicht die Landschaft, 
küsst in leisem Tanz 
frostmüde Zweige wach, 
bereitet der Natur die Bühne, 
die unsre Herzen sehen lässt,
was Leben ist. 

Der du am Boden liegst

Dich so zu sehen!
Meine Augen 
wollen zu dir empor,
verlangen nach deiner Größe, 
die einst mich Ehrfurcht gelehrt. 
Im Schatten deiner Krone 
dich ermessend
brachtest du mir Demut bei. 
Jetzt liegst du da, 
vom Tod zerfetzt, 
vom Leben zerfressen. 
Erzählst mir stumm 
von der Erde, 
aus der du nicht mehr saugst, 
was Jahrhunderte dich genährt.
Tot erfüllst du sie mit Leben, 
diese Erde, bis sie Kreaturen 
wie dich gebiert. 
So schaue ich auf zu dir, 
der du am Boden liegst, 
vergesse alle Sorgen 
ums Überleben
ein Waldrauschen lang
und übe mich 
im schönsten Erleben.

Nur ganz leis gehofft

Hatte nicht mehr daran geglaubt,
dich noch zu sehen,
nicht an diesem Abend.
Hatte nur darauf gehofft, 
ganz leis, kaum lauter 
als schläfriger Abendwind,
der die Halme streift.
Wie aus Waldes Zauberhand
entsprungen
bist du nun aufgetaucht,
sichtbar geworden,
nur weil du mich nicht siehst. 
Ich betrachte dich 
mit starren Lidern,
will dich nicht vertreiben 
aus menschenferner Blätterwelt,
erkenne in dir das Wesen, 
das nicht an gestern
und an morgen denkt, 
das den Augenblick 
liebevoll mit Aufmerksam beschenkt,
und ich begreife,
dass im Beobachten
das Achten wohnt. ?

Im leisen Konzert des Waldes

Niemand bei mir und doch nicht allein.
Alte Gedanken treten ein,
setzen sich mir zur Seite,
untermalen die Stille 
mit ihrem Klang, 
wetteifern 
mit dem Rauschen 
des Laubes, 
führen bald das Wort. 
Ich höre ihnen zu 
wie ich es selten getan, 
höre Fragen, 
die ich oft überhört 
oder eingekerkert habe. 
Lausche ihnen 
nun freundschaftlich
im leisen Konzert des Waldes
und beschenke Gedankengäste 
mit Antworten,
die ich soeben noch gar nicht hatte. 

Der Schräge

„Glaubst du wirklich, dass du hier hingehörst“, fragte einer der Aufrechten den Schrägen. „Glaub schon“, sagte der Schräge. „Wieso?“
„Schau dich doch mal um, hier steht man gerade.“
„Hab ich schon gesehen. Aber einfach nach oben ist halt der schnellste Weg zum Licht.“
„Nicht nur das“, sagte der Aufrechte, „man macht auch ’ne bessere Figur.“
„Ach so“, sagte der Schräge, „ich dachte schon eure Haltung wär ’n Strammstehen vor der Sonne.“
„Strammstehen? Wir sind halt integriert. Was man von dir nicht gerade sagen kann.“
„Macht doch nichts“, sagte der Schräge. „Integration ist ’ne prima Sache, klingt aber so vornehm, dass ich manchmal misstrauisch werde.“
„Warum?“
„Weil dahinter ’ne Anpassung steckt, die ich lieber Unterwerfung nennen würde. Nicht immer. Aber ab und zu. Und ziemlich oft.“ ?

Geheimnisvolle Waldgestalt

Als hätte deine Gestalt 
leis zu mir gesprochen, 
schau ich zu dir empor. 
Frage mich, wer du bist. 
Menschlicher Baum 
oder hölzerner Mensch. 
Du sagst es mir nicht, 
stehst einfach da, 
geheimnisvolle Waldgestalt, 
und streichelst stumm 
meine Sinne wach. 
Ich berühre deinen Leib 
mit Blicken, 
bis ich die Schönheit 
in dir entdecke 
und mich frage, 
ob die Krone der Schöpfung 
nicht auch dir 
ganz gut passt. ?