Und dann das Unfassbare

Gastkolumne in OM-Medien am 27. April

Tausende um mich herum. Dicht gedrängt. Keiner sagt etwas. Weit und breit nichts als kollektiv starres Stieren nach vorne. So, als dürfte hier, vor dem Capitol in Washington, niemand verpassen, was im nächsten Moment geschehen soll. Dann Bewegung zwischen den mittleren Säulen des Portals. Donald Trump betritt eine Bühne. In deren Zentrum hält er inne. Die Luft fängt an zu brennen. Dann das Unfassbare: Dieser Mann geht auf die Knie. Und mit Blick auf seine gefalteten Hände sagte er: „Ich bin hier, um euch um Vergebung zu bitten und um Dank zu sagen. Meinen Dank an alle, die mir ihre Stimme verwehrt haben. Denn ihr seid es, die mich und die Nation vor mir geschützt haben.“

Mehr habe ich nicht mitbekommen. Mein Wecker bimmelte mich in den Wachzustand. Macht aber nichts, man kann ja auch hellwach weiterträumen. Zum Beispiel von Demut und Dankbarkeit. Ich weiß, zwei Begriffe, die heutzutage etwas verstaubt klingen. Wer demütig auf die Knie fällt, so die verbreitete Auffassung, knickt ein. Wer sich nie beugt, gewinnt jeden Kampf und wird von aufblickenden Heerscharen erhöht. 

Kniefälle sind nicht en vogue und gelten schon gar nicht als cool. Und doch gibt es einen Kniefall, der in besonderer Weise Geschichte gemacht hat. 1970 war der damalige Kanzler Willy Brandt nach Warschau gereist. Er wollte einen Vertrag zwischen Polen und Deutschland unterzeichnen. Außerdem war er gekommen, um einen Kranz am Ehrenmal des Warschauer Ghettos niederzulegen. Dann passierte es: Brandt fiel auf die Knie, faltete seine Hände. Keine halbe Minute lang, aber es war eine gefühlte Ewigkeit. Das war nicht geplant, aber es bewegte und überzeugte, wie nur eine Herzensangelegenheit es kann. 

Das zu tun, brauchte Mut. Und zwar den einer ganz bestimmten Art: Sie heißt Demut. Der Autor Tobias Hürter nennt dieses Verhalten in der Wochenzeitung „Die Zeit“ „eine große Geste, nicht weil Brandt sich selbst mit ihr groß machte, sondern weil er mit ihr auf etwas Größeres verwies.“

Das ist der Punkt. Brandt  konnte anerkennen, dass es etwas Größeres gibt als das eigene Ich. Und das waren für ihn die Millionen Morde seines eigenen Landes. Dies ist eine Fähigkeit, die derzeit vielen populistischen Emporkömmlingen auf den politischen Bühnen abgeht. Sie halten Demut für eine Untugend, die allenfalls blöd parierenden Schafen gut steht. Demut ist für sie mit Freiheit und Selbstbestimmung nicht unter einen Hut zu bringen. 

Doch wer demütig seinen Blick zum Boden richten kann, kann sich erden. So einer ist bereit, seine Stärken und Schwächen ebenso zu betrachten wie seine lichtvollen und dunklen Seiten. Er kann akzeptieren, dass die Welt sich nicht um ihn selbst dreht. Demut bedeutet dann, so Tobias Hürter, auf Distanz zu gehen zu den eigenen Zielen, Stärken und Ängsten. „Sie ist eine Art von Realismus. Ein Gegenkonzept zum Egozentrismus.“ Und somit ist Demut eine Voraussetzung für gelingende Gemeinschaft. In solch einem Umfeld kann Dankbarkeit wachsen. Sie zu haben, fühlt sich nicht einfach nur gut an. Sie bringt Menschen auch in Beziehung zu anderen. Und somit ist sie gesund für die Gesellschaft.

Zwei Zeilen mit hundsgemeiner Wucht

Gastkolumne in OM-Medien zum 16. März

Der Samstag hatte so verheißungsvoll begonnen. Dann, um 13.49 Uhr, meldet sich mein Handy. Per WhatsApp war eine Nachricht gekommen. Nur zwei Zeilen zeigten sich im Display. In ihrer Kürze steckte eine hundsgemeine Wucht. Es war, als schössen mir die Zeilen unvermittelt in die Kniekehlen. Sie sagten mir, dass Bernd am Morgen dieses Tages plötzlich gestorben sei. Augenblicklich sah ich vor meinem geistigen Auge, wie ich vier Tage zuvor mit ihm Musik gemacht hatte. Wie jeden Dienstagabend im Stapelfelder Parforce-Ensemble. Doch sogleich blitzte eine Prise Glück in mir auf, denn bei dieser Probe hatte ich ein paar Takte mehr als sonst mit ihm geredet. In diesem kurzen Gespräch war mir deutlich geworden, wie sehr ich seine stille Zugewandtheit, sein Lachen, seine Bescheidenheit liebte. 

Die Nachricht dieses Samstags lag tagelang wie ein staubgraues Laken über mir. Unter ihm verloren selbst Putin, Trump, Klimasorgen und Hamas ihre toxische Wirkung. Bernds Tod war in diesen Tagen giftiger. Wie ein Gegengift hätte es auf mich gewirkt, in sein lachendes Gesicht zu blicken. Es hätte mich zum Lachen gebracht. 

Aber wäre das angebracht gewesen? Während mir das durch den Kopf ging, stieß ich auf einen Beitrag im „Tagesspiegel“.  Darin wird der Arzt und Kabarettist Dr. Eckart von Hirschhausen gefragt, ob es zulässig sei, dem Tod mit Humor zu begegnen. Seine Antwort: „Fragen Sie mich im nächsten Leben nochmal.“ Hin und wieder wollten Journalisten von ihm wissen, was man an seinem Grab über ihn sagen solle. „Was man sagen soll? Ist doch klar: ,Oh, er bewegt sich noch.` Das wünsche ich mir“, sagt von Hirschhausen. „Außerdem möchte ich nicht im Gedenken der Menschheit weiterleben, sondern viel lieber in meiner Wohnung.“

Barbara Wild weiß, dass Humor hilft, schwere Themen auszusprechen und zu bewältigen. Die Tübinger Professorin ist Ärztin für Neurologie und befasst sich wissenschaftlich mit dem Thema Humor. In der „Zeit“ berichtet sie von ihren Humortrainings, in denen sie Teilnehmerinnen einen Stapel Cartoons vorlegt. Jede soll sich den herausziehen, den sie am witzigsten findet. Dabei fällt auf, dass die meisten zu einem Cartoon greifen, der mit ihnen selbst zu tun hat. Die Ärztin nennt ein Beispiel: Ein Bild zeigt eine ältere Dame, die auf dem Gipfel eines Berges im Rollstuhl sitzt. Hinter ihr eine jüngere Frau, die den Rollstuhl hält und denkt: „Manchmal muss man auch loslassen können.“ 

Aber was fand die Frau an diesem makabren Cartoon so erheiternd? Als sie es erklärte, „kamen ihr plötzlich die Tränen, und es brach förmlich aus ihr heraus“, sagt Barbara Wild. Die Frau erzählte, dass sie sich um ihre pflegebedürftige Mutter kümmern müsse und wie furchtbar belastend das sei. Im besten Fall, so die Ärztin, erinnere sich die Frau an das Bild, wenn sie das nächste Mal an der Pflege ihrer Mutter verzweifele und ihre negativen Gefühle etwas loslassen könne.

Überhaupt nicht makaber finde ich es, wenn ich beim Thema Humor an Hospize denke. Nicht zuletzt an das Cloppenburger Hospiz namens Wanderlicht. Dort herrscht keine Grabesstille. Oft wird dort musiziert, gesungen und gelacht. Möglich ist das, weil dort Ärzte und Pflegerinnen tätig sind, die den Tod nicht als Scheitern ihrer Profession ansehen. Für sie ist er Teil des Lebens, den sie begleiten und gestalten können. Wer das lachend leistet, wirkt entlastend. Nicht, indem er Probleme weglacht. Das klappt nicht. Aber wer sie mit Humor betrachtet, wechselt seine Perspektive. Das führt zu neuen Gedanken. Und dazu, das Leben augenzwinkernd ernst zu nehmen. 

Beziehungsstatus: Es ist kompliziert

Gastkolumne in OM-Medien zum 3. Februar

Sie lässt sich schlichtweg alles gefallen. Man kann ihr vorwerfen, Hass zu schüren, die Inflation voranzutreiben und sogar Kriege anzuzetteln – sie lässt jeden Schuldspruch über sich ergehen. Und das auf geradezu devote Weise. Aber es ist nicht richtig, ihr jeden Mist in die Schuhe zu schieben. Okay, hin und wieder loben wir sie auch übern grünen Klee. Zum Beispiel dann, wenn wir sagen, sie, die Zeit, heile alle Wunden. Aber auch das ist nicht richtig. Es ist sogar Unfug, denn die Zeit tut nichts. Sie ist einfach nur da, steht uns zur Verfügung. Jederzeit. Dennoch ist es gar nicht so leicht, liebevoll mit ihr anzubandeln. Befragt nach unserer Beziehung zur Zeit, müssten wohl die meisten sagen: Es ist kompliziert. Wie sehr das zutrifft, verrät schon das Wort „Zeitvertreib“. Es klingt, als wollten wir böse Geister vertreiben. 

Aber warum vertreiben, steckt doch in jedem Tag, jedem Moment ein ganz besonderes Flair: das der Unwiederbringlichkeit. Leider nehmen wir es nur selten wahr. Wenn wir die Geburt eines Kindes miterleben, wird das Flair einer neuen Zeit beeindruckend spürbar. Wenn wir einen geliebten Menschen sterben sehen, erwischt uns die ganze Wucht einer zu Ende gehenden Zeit mit ihrer Unwiederbringlichkeit.

Wer nicht den Verlust eines Menschen zu ertragen hat, spürt in dieser Zeit der Kriege und menschenverachtenden Naziparolen den Verlust jeglicher Sicherheit. Allerorts sucht man nach Worten für das aktuelle Geschehen und nennt es Zeitenwende. Mittlerweile habe ich etwas gegen diesen Begriff, denn er lähmt, weil er impliziert, dass die Zeit eh nur ihr eigenes Ding macht. Aber das ist ein Irrglaube. Halten wir an ihm fest, können wir kaum noch anders, als in Schockstarre zu fallen. Das wäre dann sinnlos vergeudete Zeit. 

Wenn ich nun sage, Dankbarkeit könnte eine belebende Alternative sein, klingt das vielleicht erstmal wie ein schlechter Witz. Aber danach ist mir nicht zumute. Jeder, der schon einmal schwer erkrankt war, kennt das Sehnen nach Genesung. In solchen Phasen wäre wohl jeder unendlich dankbar für Gesundheit. Im Alltag nehmen wir fast alles als selbstverständlich gegeben hin. Erst wenn etwas fehlt, erkennen wir glasklar dessen Wert.

Das sollten wir schleunigst ändern. In diesem noch so jungen Jahr sehe ich dazu eine prima Gelegenheit. Weil 2024 ein Schaltjahr ist, spendiert uns der Februar einen Tag mehr als sonst. Mein Vorschlag: ihn nicht mit noch mehr Aufgaben zu füllen und ihn einfach pflichtbesoffen zu schlucken. Ich stelle es mir belebend vor, diesen Tag (oder einen anderen) bewusst wie einen zu betrachten, der für uns von irgendeinem Stern gefallen ist. Es geht nicht darum, an diesem Tag die rosarote Brille aufzusetzen, sondern darum, uns auf wertvolle Kleinigkeiten im Alltag zu konzentrieren

 – auf das behaglich warme Zimmer, auf das Wunderwerk eines Schneekristalls oder auf das freundliche Lächeln eines Menschen, von dem wir nichts als Kritik erwartet haben. Oder wir könnten uns fragen, welche Menschen uns durch ihr Wesen bereichert haben. Ein Danke, das wir dann über die Lippen bringen, ist bestens verbrachte Zeit. Denn es wirkt wie ein Bindemittel in einer aus den Fugen geratenen sozialen Welt.

Die schönste Bescherung

Gastkolumne in OM-Medien zum 23. Dezember

Es sieht noch finsterer um die großen Kirchen aus, als bisher angenommen. Und das sogar im Winter, wenn es allerorts illuminierte Weihnachtssehnsucht schneit. Eine Umfrage des Markt- und Sozialforschungsinstituts INSA und eine Forsa-Studie führen dies frostig vor Augen: 

Der Anteil der Menschen, die sich noch zu einer christlichen Gemeinschaft zählen, werde im kommenden Jahr unter 50 Prozent sinken. So die Hamburger Theologieprofessorin Kristin Merle in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Aktuell seien 20 Prozent der Katholiken fest entschlossen, aus ihrer Kirche auszutreten. Bei den Protestanten seien es 17 Prozent. Und selbst zu Weihnachten verlieren Kirchen ihren Magnetismus. Nur noch jeder vierte Befragte hat vor, Heiligabend zur Christmette zu gehen. Dabei galt dieser Tag bisher als Ausnahmetermin. Verlässlich zog er Weihnachtschristen an, also jene, die nur einmal pro Jahr in die Kirche gehen. Darum begreifen Priester und Pfarrerinnen den Heiligabend schon lange als wertvollsten Marketing-Tag des Jahres. Kein Wunder also, dass sich die meisten von ihnen da besonders ins Zeug legen.

Wenn sich dennoch all ihre Bemühungen nicht so richtig auszahlen, könnte man meinen, der moderne Mensch habe jegliche Offenheit für Transzendenz verloren. Dagegen würde der russische Religionsphilosoph und einstige Marxist Nikolaj Berdjajew protestieren – wenn er noch leben würde. Er war der Überzeugung: „Der Mensch ist unheilbar religiös.“ Und gewissermaßen bestätigt das die Forsa-Studie. Kristin Merle liest aus ihr eindeutig ein religiöses Bedürfnis. Sie sagt, die Menschen seien offen für Erlebnisse, „die sie spüren lassen, dass es etwas Größeres, Tragendes gibt.“ Allerdings finden sie dieses Größere kaum in der Kirche.

Klar, es ist für Geistliche kein leichter Job, uns Heutigen glaubhaft zu vermitteln, dass der Zimmermann namens Jesus Gott ist. Schließlich sind wir es gewohnt, nahezu alles wissenschaftlich belegt zu bekommen. Historisch belegt ist allenfalls, dass dieser Jesus aus Nazareth existiert hat. Aber ihn auf einer göttlichen Säule zu sehen, ist eine andere Liga. Genau das ist allerdings nicht erforderlich. Es wäre sogar falsch. 

In der Kirche ist zu hören, Gott sei Mensch geworden. Mich hat diese Aussage nie so richtig erreicht. Sie ist mir zu abstrakt. Hinzu kommt, durch unzähliges Hören hat diese Formulierung ihre Angelhaken in mir verloren. Sie streift mich allenfalls wie eine abgelutschte Schnur. Nachdenklich hingegen hat mich eine Formulierung des brasilianischen Theologen Leonardo Boff gemacht. Er schildert, was in den ersten Christen vor 2000 Jahren vorgegangen ist. Tief beeindruckt sagten sie sich: „So menschlich wie Jesus kann nur Gott sein. Und da begannen sie, ihn Gott zu nennen.“

Das heißt für mich, Menschen, die diesen Mann erlebt haben, haben ihn mit ihresgleichen auf untrennbare Weise zusammengebracht. Genau das ist für mich das Außerordentliche des Christentums. Denn es bedeutet ja nicht nur, dass die ersten Christen in ihm etwas wunderbar Göttliches erkannt haben. Es bedeutet auch, dass wir Menschen Göttliches tun können. Wie das geht? Indem wir Blinde sehend machen. Überall stecken Menschen dermaßen im Schlamassel, dass sie ihre Möglichkeiten nicht mehr erkennen. Sie sind blind. Wir können uns auf sie einlassen und ihnen Durchblick verschaffen. Wir müssen es nur tun, und schon haben wir die schönste Bescherung.

Damit hatte ich nicht gerechnet

Gastkolumne in OM-Medien zum 11. November

Wissen kann richtig weh tun. Das habe ich kürzlich bei einer Einladung zum Kaffee begriffen. Am Tisch ging es nicht ausschließlich um die köstliche Marzipantorte der Gastgeberin, auch um die unappetitlichen Themen dieser Zeit. Damit hatte ich durchaus gerechnet, da ich in einer Runde informierter und kritischer Köpfe saß. Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass mein Gegenüber die Tagesschau an den Pranger stellte. Die Anklagepunkte lauteten: nur noch schreckliche Nachrichten, übertrieben dramatisiert und nicht mehr auszuhalten. Ein Blick ins empörte Gesicht der Klägerin sagte mir zweifelsfrei: Aktuelle Kriseninfos haben ihre Schmerzgrenze massiv überschritten. 

Unser Bundespräsident drischt nicht auf professionelle Medien ein, aber er kann nachvollziehen, was in Konsumenten aktueller Nachrichten vorgeht. In seiner Rede zum 100. Geburtstag des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein beklagte er eine „News-Erschöpfung“. Immer weniger Leser, Hörer und Zuschauerinnen schafften es, so Frank-Walter Steinmeier, in den sich „überstürzenden Nachrichtenlagen“ den Überblick und die Nerven zu behalten. Von Bürgerinnen und Bürgern wisse er, dass viele „in einer Art Selbstschutz“ zu Nachrichten-Verweigerern werden. „Andere ziehen sich zurück in eine Parallelwelt, in der Wahnsinn, Verschwörung und erfundene Wahrheit regieren.“

Steinmeiers Eindrücke werden vom Hamburger Hans-Bredow-Institut untermauert. Laut dessen Untersuchung meiden 45 Prozent der Befragten in Deutschland Nachrichten über den Krieg in der Ukraine und 27 Prozent Informationen über den Klimawandel. Schmerzhafter Haken an der Sache ist: Wer wesentliche Informationen ausblendet, kann kaum gute (Wahl-)Entscheidungen treffen und schon gar keine Lösungen für eine bessere Zukunft finden. 

Die große Paradoxie unserer Zeit ist: Nie konnte die Menschheit über mehr Informationen verfügen als heute, und noch nie war die Gefahr so groß, genau aus diesem Grund weniger zu wissen. 

In seinem Bestseller „12 Gesetze der Dummheit“ schreibt der Neurowissenschaftler Dr. Henning Beck: „Allein die Tatsache, dass wir einen hohen IQ haben, heißt noch lange nicht, dass wir der Dummheit entkommen wären. Das Gegenteil kann mitunter der Fall sein.“ Schließlich handeln wir vielfach wider unsere Existenz. Wir wissen, dass wir unser Verhalten – nicht nur hinsichtlich Klima und Artensterben – rasant ändern müssen, tun es aber allenfalls marginal. Viel lieber vertrauen wir darauf, das Problem, wenn es irgendwann mitten im Raum vor uns steht, schon irgendwie verscheuchen zu können. 

Dass wir uns mit der Zukunft schwer tun, verrät schon unsere Sprache. Wir sagen nicht: „Ich werde morgen ins Kino gehen.“ Wir sagen: „Ich gehe morgen ins Kino.“ Die Gegenwart erscheint uns greifbarer. Unsere Zukunft wirkt eher abstrakt, so, dass es schwer fällt, sich für sie ins Zeug zu legen. Am ehesten tun wir das, wenn wir glauben, dass unser persönlicher Nutzen deutlich spürbar wird. Und zwar sofort. Sofort ist allerdings nichts zu erwarten, wenn wir heute fürs Alter vorsorgen oder uns entschließen, gesund zu leben. 

Das Typische an Krisenzeiten ist: Sie gebären Pessimisten. Zugegeben, viele von ihnen sind gute Analytiker. Sie klingen schlau, neigen aber dazu, Themen zu verkomplizieren. Was es braucht, sind unzufriedene Optimisten. Mit ihrem Lebenshunger bringen sie es fertig, aus der letzten Mandel dieser Welt eine Marzipantorte zu zaubern.

Der Hammer

Gastkolumne in OM-Medien zum 30. September.

Er hatte, was ich nicht hatte: Einsen und Zweien, wo bei mir Vieren und eine Fünf im Zeugnis standen. Seine Beine steckten in Levi`s-Jeans, meine in Spießerhosen. Mit vierzehn hätte eine Levi’s mein Budget gesprengt. Sie kostete neununddreißig Mark neunzig. Er holte sich einfach eine. Noch eine und noch eine. Das konnte er, weil er sich bei einem Floristen als radelnder Bote täglich fünf Mark verdiente. 

Während ich noch aus pickeligen Selbstzweifeln bestand, gab er sich selbstbewusst. Er sagte, was er dachte. Vor einem, der ihm nicht schmeckte, baute er sich auf, preschte bis auf Streichholzlänge heran und schrie: „Aus deinem Mund stinkt’s wie aus `nem Gulli.“ 

Wer ihm – ich nenne ihn mal Björn Stöcke – widersprach, wurde auf dem Schulhof zum Schweigen gebracht. Ich weiß noch, wie Bernhard ihm dort verbal die Stirn bieten wollte. Unser Klassenheld ließ es nicht dazu kommen. Er dröhnte Bernhard die Faust ins Gesicht. Derartige Brutalität hatte ich bis dato nur in Western gesehen. Zwei Mädchen standen abseits. Bei ihnen hatte ich nie eine Chance gehabt, unser Levi’s-Mann hingegen hatte ihre Bewunderung. Jetzt so richtig. Das war ihren Augen erschreckend deutlich anzusehen. 

Das Merkwürdige war: Es gab kaum einen, der unseren Björn wirklich mochte, dennoch hatten wir ihn zum Klassensprecher gewählt. Und hätten wir ihn zum Kanzler machen können, hätten wir vermutlich auch das getan. 

Warum? Ganz einfach: Er hatte Verstand und den Mut, die tabuisierten Grenzen des Sagbaren zu verschieben. Mit ihm an der Seite, glaubte jeder Pimpf zur Persönlichkeit zu mutieren.

Man muss nicht in der Pubertät stecken, um auf solche Menschen abzufahren. Ihre Anziehung wirkt auf Männer und Frauen jedes Alters. Besonders dann, wenn deren Ohnmachtsgefühl in einer immer komplizierteren Welt wächst und wächst.

Bei ihnen trifft die AfD mit ihrem Populismus der einfachen Lösungen ins Schwarze. Wie sehr, das zeigt das Ergebnis einer Studie des Gesellschaftsforschers Dirk Ziems. Demnach glauben AfD-Anhänger: Man hätte 2008 in der Finanzkrise die „gierigen Banken bestrafen sollen“. Man hätte 2015 in der Flüchtlingskrise die Grenzen dicht machen sollen. In Sachen Klima sollte man sich China und die USA vorknöpfen. Und mit Putin sollte man sich verständigen, „dann hätten wir wieder günstiges Gas.“

Doch das sind Scheinlösungen. Die politische Realität ist komplizierter. Der AfD-Politiker Björn Höcke ignoriert sie mit Methode. Immer wieder spricht er denen, die sich politisch unverstanden und nicht beachtet fühlen, mit einem Vokabular aus der Seele, das in Adolf Hitlers Hirn geboren ist. In einer Rede in Sachsen-Anhalt schrie er seinem Publikum entgegen: „Die Deutschen müssen sich fragen und entscheiden: Wollen sie Hammer oder Amboss sein?“ Damit bezieht er sich auf eine Rede Hitlers, die er 1919 vor der Deutschen Arbeiterpartei gehalten hat. Dort sagte er: „Wer nicht Hammer sein will, der muss Amboss sein. Wir sind jetzt in Deutschland Amboss.“

Derartige Äußerungen brechen nicht nur Tabus. Sie sind diabolisch, denn sie fördern die Erosion allen politischen Restvertrauens. Klar, Demokratie braucht Skepsis und hellwache Kritiker. Durch sie schöpfen wir die Energie, die wir brauchen, um voran zu kommen. Aber Heißmacherei und polemische Schwarzmalerei geben der Demokratie den Rest.

Aus für Deutschland

OM-Medien-Kolumne zum 19. August

Oft ist es ja durchaus von Vorteil, ein Gewohnheitstier zu sein. Als solches steckt man nicht nur körperliche Schmerzen besser weg, auch die täglichen Krisen- und Kriegsnachrichten. Sie detonieren nicht mehr in der Seele, sondern verpuffen wie Knallplättchen weit vor dem Gehörgang.  Schade nur, dass das Gewohnheitstier mit einem Dilemma leben muss: Es gewöhnt sich auch an das Schönste und Wertvollste. Sogar so sehr, dass es seine besonderen Privilegien nicht mehr sieht. Zugegeben, auch ich bin viel zu oft ein blindes Huhn. Dennoch finde ich immer mal wieder ein Korn. Vor über 40 Jahren sogar eines, das mir vor allem in aktuellen Krisensituationen ausgezeichnet schmeckt. 

Damals war ich mit meinem ersten Auto, einem alten Mini Cooper, unterwegs nach Valencia. Nach 200 Kilometern wurde mir mulmig, denn der Kleine schluckte Öl wie eine Kettensäge. Beim Zwischenstopp in Köln teilte ich meinem älteren Bruder mein Unbehagen mit. Sofort hatte er die Lösung: mein Auto stehen lassen, seines mitnehmen. Dem konnte ich nicht widerstehen. In meinen Augen war diese Karosse nämlich das automobile Himmelreich schlechthin: eine langschnäuzige Eleganz mit 12 Zylindern unter der Haube. Drei ganze Wochen fühlte ich mich damit wie der König von Deutschland und Spanien zugleich. Doch dann, auf der Rückfahrt, passierte es. Ich vermisste etwas: die Faszination, mit der ich Wochen zuvor in dieses Traumauto gestiegen war. Ich hatte mich daran gewöhnt.

So, wie ich einst auf meinen automobilen Traum geblickt habe, blicken große Teile der Welt auf Deutschland.  Sie sehen nicht nur unseren wirtschaftlichen Erfolg, sie beneiden uns um unsere Demokratie. Doch an deren Vorzüge scheint man sich hierzulande dermaßen gewöhnt zu haben, dass weite Teile der Gesellschaft sie komplett aus den Augen verloren haben. Und nicht nur das: Allerorts schießen Systemverächter wie Unkraut aus dem Boden. Sie legen es darauf an, die freiheitliche Gesellschaftsordnung Deutschlands mit autoritärem Nationalismus zu überwuchern. Der AfD gelingt das in erschreckendem Maße. Sie spricht all jenen Menschen mit simplen Parolen aus der Seele, die gewohnheitstierisch schon viel zu lange aus dem Blick verloren haben, was Demokratie ihnen gibt. Selbst wenn AfD-Leute behaupten, die Meinungsfreiheit sei nicht gewährleistet, stimmt man ihnen lauthals zu. Am liebsten möchten sie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk an die Leine legen, damit er ein „ausgewogenes Programm“ liefert. Aber das würde bedeuten, dass AfD-Politiker ihre Positionen noch erfolgreicher streuen. 

Wer dem zustimmt, ignoriert, mit welchem Ziel öffentlich-rechtliche Sender nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden: nämlich zur Verteidigung der Demokratie. Zu ihrem Job gehört es, antidemokratische Kräfte unter die Lupe zu nehmen und öffentlich zu kritisieren. Denn wenn Rechtsextremisten erst einmal in Machtpositionen hineingewählt worden sind, werden sie die Möglichkeiten der Demokratie nutzen, um sie zu beschädigen.

Zurzeit belegen Umfragen noch, dass eine Mehrheit die Demokratie will. Aber das ist nicht beruhigend. Wer die Demokratie will, muss auch für sie kämpfen. Wer das nicht will, gibt dem Kürzel „AfD“ eine neue Bedeutung: „Aus für Deutschland“.

Das Schweigen der Männer

OM-Medien-Kolumne Juli

„Ich finde es völlig okay, wenn Männern bei der Partnerin gelegentlich die Hand ausrutscht.“ Dies ist nicht die Aussage eines speziell entgleisten Mannes. So tönen laut Befragung der Organisation Plan International 33 Prozent der 18- bis 35-jährigen Männer.  

Mein erster Gedanke, als ich dies in der Tagesschau hörte: Wie schräg bis mutig muss einer sein, diese Einstellung über die Lippen zu bringen?! Doch dann: schräg ja, mutig nein. Schließlich werden derartige Bilder von Männlichkeit täglich auf prominente Weise salonfähig gemacht. Egal, ob Erdogan, Putin, Trump oder die AfD mit ihrem Björn Höcke, sie alle malen mit selbstbewusster Unverfrorenheit an ihrem vorgestrigen Bild vom Mann. 

Das Gefährliche daran ist, dass sie damit nicht nur Männer mit verbrecherischem Potential vergiften. Der Feminismus geht vielen auf den Senkel. Nicht nur verkappten Alphamännchen. Auch solchen, die sich für fortschrittlich denkend halten. Die Höflichen machen still ihre hämischen Witze, andere bringen messerscharf rüber, wer in einer „ordentlichen“ Partnerschaft das Sagen zu haben hat. Da ist es nicht mehr schwer nachzuvollziehen, dass die Parole, der Mann dürfe heutzutage kein richtiger Mann mehr sein, wie ein Ohrenschmaus in den Gehörgang dringt.

Aber was ist ein richtiger Mann in den Augen derer, die so sehr darauf aus sind, zu Hause der King zu sein? So einer möchte unter anderem keine Beziehung mit einer Frau, die bereits viele Sexualpartner hatte. Das sagte jeder zweite Befragte. Allerdings finden 37 Prozent es ziemlich reizvoll, mit möglichst vielen Frauen zu schlafen. Was bei „richtigen“ Männern so gar nicht oben auf der Liste steht, ist, Gefühle zu zeigen. Die Mehrheit gab zu, sich dann schwach und angreifbar zu fühlen.

Natürlich kennt auch ein „richtiger“ Mann Trauer und Verzweiflung. Es kann auch passieren, dass er komplett am Ende ist. Sich Hilfe zu holen, kommt für ihn jedoch kaum in Frage. Dann müsste er ja über sein Problem reden. Und das wäre unmännlich, ja, weibisch. Er hätte das Gefühl, das traditionelle Bild seiner Männlichkeit wie ein geliebtes Ölgemälde eigenhändig aus dem Goldrahmen zu stoßen. Ein „richtiger“ Mann zieht es vor, zu schweigen. Viele schweigen sich tot. Sie sehen ihre einzige Lösung im Suizid. Diesen letzten Weg gehen dreimal mehr Männer als Frauen.

Das Ergebnis einer anderen Untersuchung zeichnet das Bild des typischen Mannes herrlich simpel: Er ist mit dem Auto unterwegs und verfranzt sich. In so einer Situation nimmt er es in Kauf, im Schnitt dreißig Minuten umherzuirren, statt einfach nach dem Weg zu fragen. Frauen kommen schneller ans Ziel, denn sie fragen bereits nach fünf Minuten.

Der männlichen Angst, weibisch zu sein, folgt der Druck, eine Stärke zu zeigen, die gar nicht existiert. Aber auf diese Weise verkümmert Empathie. Sowohl die für sich selbst als auch die gegenüber anderen Menschen. Und das führt letztlich zu Aggression. Gegen sich selbst und gegen das eigene Umfeld.

Entblößt

Ich entdeckte ihn in der Fußgängerzone. Schon von Weitem war ihm anzusehen, dass etwas nicht stimmte. Oft bewunderte ich den alten Herrn wegen seines schlagfertigen Humors. Auch wegen seiner Augen, die so charmefunkelnd erzählen konnten. Aber an diesem Vormittag sahen sie aus, als hätten sie das Leben noch nie blühen sehen. Dann entdeckte er mich in der Menge. Im Nu kam ihm ein Lächeln, aber kein ansteckendes. Es wirkte geborgt. Als ich ihn fragte, wie es ihm gehe, schaute er zur Seite. Er wusste genau, dass meine Frage keinen Smalltalk startete. Er brauchte drei, vier Sekunden, dann sah er mich an. Nur kurz, aber das feuchte Schimmern seiner Augen war nicht zu übersehen. Dann seine Antwort: „Man fühlt sich halt allein.“ 

Mir war klar, was er meinte, denn nach dem Tod seiner Frau haben wir uns oft darüber unterhalten. Es ist die Art seiner Formulierung, die mich berührte. Seine Aussage hatte es nämlich in sich. Mir kam es so vor, als habe dieser liebenswerte Typ es vorgezogen, sich persönlich möglichst außen vor zu lassen. Denn er sagte mir nicht, wie er sich fühlte, sondern wie man sich fühlt. Das Wort „Ich“ wäre wohl zu schmerzhaft geworden.

Dabei ist das Alleinsein kein Gefühl, es ist ein objektiver Zustand. Wenn ich mich ohne einen anderen Menschen in einem Zimmer befinde, bin ich allein. Das kann wohltuend sein. Einsamkeit hingegen ist ein subjektives Gefühl. Das kann einem im Konzertsaal ebenso heftig zu schaffen machen wie auf einer Party. Und zutiefst auch in einer Partnerschaft.

Dr. Caroline Bohn beschäftigt sich als Soziologin in Witten-Herbede wissenschaftlich mit diesem Thema. In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ sagte sie, wer einsam sei, schäme sich oft dafür. So jemand habe schnell das Gefühl, nicht richtig zu sein, nicht zu genügen, nicht der gesellschaftlichen Norm zu entsprechen. Und wer sich schäme, werde einsam, „weil Scham das größte Tabuthema überhaupt ist.“ Selbst vertrautesten Menschen könne so jemand nicht von seinen Schamgefühlen erzählen. 

Das ist ein Dilemma. Einsamkeit kann ebenso Scham erzeugen wie der erste Weg durch die Stadt im Rollstuhl, wie die schiefe Bahn des eigenen Sohnes oder die Enkelkinder, die man ersehnt aber nicht bekommt. Darauf will kaum jemand angesprochen werden. Das erzeugt Peinlichkeit, und sie drückt den Schmerz, die Pein aus, die mit der Scham einhergeht.

Scham ist immer Stress. In solchen Momenten schüttet der Körper das Hormon Cortisol aus, die Blutgefäße weiten sich, die Hände werden feucht, das Gesicht wird rot. Wer Scham empfindet, sieht sich entblößt. Er blickt auf seinen Makel und glaubt, die Öffentlichkeit stiere erbarmungslos genau auf diesen Bereich. Und je größer die Zahl der Zeugen der Scham, desto immenser das Schamgefühl. Es gibt dann nur noch einen Wunsch: im Erdboden zu versinken, dort, wo einen niemand sieht.

Nicht zuletzt in Sozialen Medien entsteht häufig der Eindruck, viele Menschen hätten sich ihr Schamgefühl abtrainiert. Aber sie sind nicht zu beneiden, denn sie sind unverschämt. Ihnen fehlt der Seismograf, der ihnen sensibel anzeigt, wann das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung, Respekt und Zugehörigkeit ignoriert wird.

Das elfte Gebot

OM-Medien-Kolumne April

Manchmal sieht es so aus, als hätten wir den Zehn Geboten im Laufe der Zeit ein elftes untergeschoben. Das lautet: „Du sollst nicht leiden.“ Schließlich ist es uns gelungen, nach und nach die härtesten Knochenjobs verschwinden zu lassen. Die erledigen – zumindest in der westlichen Gesellschaft – Maschinen für uns. Die meisten körperlichen Schmerzen ersticken wir durch Medikamente im Keim, seelische bezwingen wir mit Beruhigungsmitteln und Antidepressiva. Unsere Lebensumstände werden also immer geschmeidiger. Könnte man meinen. Tatsache ist aber, dass immer mehr Menschen in eine Krise geraten. Sie zweifeln an der Welt und auch an sich. Das belegen Studien der Universität Innsbruck. Sie zeigen, dass sage und schreibe 23 Prozent der 18- bis 29-Jährigen unter einer Sinnkrise leiden. Ihre Zahl ist nicht erst in Zeiten von Pandemie, Klimakrise und Kriegen sondern bereits seit 15 Jahren rasant gestiegen.

Tatjana Schnell ist Psychologieprofessorin in Innsbruck und Oslo. Sie forscht seit über 20 Jahren zum Thema Lebenssinn. Wenn Leiden heutzutage als unzumutbar und überflüssig angesehen wird, hält sie das für problematisch, „weil wir damit den Zugang zu einer zutiefst menschlichen Dimension verlieren.“ In ihren Augen ist es erforderlich, das Leiden zu akzeptieren und ihm auf den Grund zu gehen. Vor allem dadurch werde in der Sinnkrise ein klarer, ernüchterter Blick auf das Leben und auf die eigene Person möglich, sagt sie in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Gewiss seien derartige Selbstvergewisserungen schmerzhaft, aber auch im wahrsten Sinne des Wortes notwendige Prozesse. Denn wenn eine Not entstanden sei, könne die Krise die Not wenden. 

Tatjana Schnell zitiert in diesem Zusammenhang den Philosophen Søren Kierkegaard.  Er unterscheidet zwischen den Begriffen „Leid“ und „leiden“. Denn das Leid widerfahre uns, zu leiden hingegen sei unsere Art des Umgangs damit. Leiden ist also eine Aktivität. Das heißt – so zynisch das klingen mag -, wir können unsere Haltung zum Erlittenen hinterfragen und korrigieren. 

Wer in einer Sinnkrise steckt, fühlt sich allein. Und das selbst dann, wenn er um die hohe Zahl derer weiß, die Ähnliches erleiden. Das liegt daran, dass kaum jemand über persönliche Krisen spricht. In solchem Vertuschen entsteht der Eindruck, der Rest der Welt halte das Leben für leicht und so präzise planbar, dass ihm nichts in die Quere kommen kann. Wer das nicht schafft, schlägt sich mit einem ramponierten Selbstwertgefühl durch seine Zeit.  

Üblich ist es in solchen Situationen, sich beruflich extrem ins Zeug zu legen. Auch für den Preis, dass man sich heftig verbiegt. Das wird in Kauf genommen, um Anerkennung zu erhalten und den eigenen Wert aufpoliert zu sehen. Aber verbogen kann keiner mehr aufrecht gehen. Hilfreicher finde ich den Vorschlag des japanischen Philosophen Ichiro Kishimi. In seinem Bestseller „Du musst nicht von allen gemocht werden“ antwortet er auf die Frage, wie um alles in der Welt man es schafft, das Gefühl zu gewinnen, dass man Wert hat: „Es ist recht einfach. Wenn man weiß, dass man etwas Positives zur Gemeinschaft beiträgt, kann man sich wahrhaft als wertvoll empfinden.“ Also nicht darauf aus sein, von anderen als „gut“ beurteilt zu werden, sondern aus der eigenen subjektiven Sicht zu erleben, dass man zum Wohl anderer etwas beiträgt.