Wir sollten es feiern

Gastkolumne in OM-Medien am 28. September

Es war ein Herbstmorgen, kurz vor vier, A1 Richtung Osnabrück. Auf der rechten Spur Lkw an Lkw. Wie eine Lichterkette glitten sie durch die Dunkelheit. Kein Unheil ahnend gab ich Gas, zog links vorbei. Ein kurzer Blick auf den Tacho: „140“ stand da. Schnell, aber nicht zu schnell, dachte ich. Vorne war ja alles frei. Doch schon im nächsten Moment zwei glänzende Punkte. Direkt vor mir. Sogleich eine schreckliche Ahnung: Das könnten Augen sein. Dann nur noch Lärm und Erschütterung. Glassplitter flogen mir ins Gesicht. Sekunden danach begriff ich, dass ich tatsächlich noch lebte und nicht einmal verletzt war. Ein Polizist sagte mir später, dass ein Bulle (kein Kollege) breitseits auf der Überholspur gestanden habe. Mir schoss Dank durch Kopf und Glieder. 

Religiöse Menschen danken dem Himmel, Ungläubige dem Leben. Wem wir danken, spielt jedoch eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist, dass wir uns überhaupt bedanken können. Das Wunderbare ist nämlich, während wir Dankbarkeit empfinden, bringt unser Geist es nicht fertig, sich unentwegt an Problemen festzubeißen. Er hat Schöneres zu tun. Und bei der Vorstellung, dass im Nu alles vorbei sein kann, nimmt er wahr, was er meistens übersieht. Die alltäglichen Kleinigkeiten: das fröhliche Gesicht des Paketzustellers, die warme Dusche am Morgen oder den jungen Kurden, der hinter mir her hetzte, als ich vom Gelände der Tankstelle fahren wollte. Er schob mir meine Kreditkarte durchs Seitenfenster. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie mir an der Kasse auf den Boden gefallen war. Als ich mich bedankte, meinte er: „Ist doch selbstverständlich.“

Genau das ist es nicht. Und so will ich es auch nicht verstehen, denn das würde mir den Blick auf das Gute vernebeln. 

Als die Türme des World Trade Center eingestürzt waren, machten US-Psychologen eine erstaunliche Feststellung. Sie berichten, dass viele Menschen noch Monate später mehr Dankbarkeit empfanden als zuvor. Als hätte die schlagartige Begegnung mit dem Bösen ihren Blick für das Gute geschärft.

Angesichts einer beängstigenden Diagnose oder inmitten einer schweren Krise  Dankbarkeit aufzubringen, ist kaum möglich. Dazu anzuraten, wäre zynisch. Es kann auch nicht das Ziel sein, jeden Verlust und alles Verbockte durch die rosarote Brille zu betrachten. Wer das tut, versucht, Negatives unter den Teppich der Dankbarkeit zu kehren. Doch auf diese Weise wird niemand so wichtigen Gefühlen wie Trauer und Wut gerecht. 

Dennoch: Wissenschaftlich erwiesen ist, dass dankbare Menschen glücklicher, optimistischer und hilfsbereiter sind. Und somit sind sie das Schmieröl sozialer Beziehungen. 

Manchmal habe ich den Eindruck, dass es Menschen, denen es materiell nicht so gut geht, leichter fällt, Dank zu zeigen. Vielleicht liegt es daran, dass Sie ihre Abhängigkeit stärker fühlen als andere. Wer wirtschaftlich auf sicherem Boden steht, versucht, jede Abhängigkeit zu bekämpfen. Aber vielleicht wäre es sinnvoller, sich bewusst zu sagen, dass wir alle Empfangende sind.

Aus dem Gefängnis der Gestapo schrieb der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer einen Brief an seine Eltern. Ein Satz daraus geht mir unter die Haut: „Im normalen Leben wird einem oft gar nicht bewusst, dass der Mensch unendlich viel mehr empfängt, als er gibt, und dass Dankbarkeit das Leben erst reich macht.“

Wir sollten dankbar feiern, dass wir viel, ja, sehr viel zu verlieren haben.

Tag versaut

Gastkolumne in OM-Medien am 24. August

Es ist Vormittag. Ein Mann ruft seine Frau an. Sofort hört sie an seiner Stimme, dass etwas im Busch ist. Sie fragt, was er habe, aber ihr Mann rückt nicht mit der Sprache heraus. Als sie nachhakt, vertröstet er sie auf den Feierabend. Bevor er auflegt, sagt er nur: „Mach dir schon mal Sorgen.“ Das macht sie. Den ganzen lieben langen Tag, bis zum Abend. – Ein jüdischer Witz, der die Sorgen an den Pranger stellt. Denn viele Sorgen kippen nur ihre dunkle Brühe über Menschen aus und halten sie davon ab zu leben. 

Es gibt so viele Gründe, sich Sorgen zu machen: Kommen genug Leute zu meinem Fest? Kommt mein Vortrag an? Was wird das Ergebnis meiner Darmspiegelung sein? Sorgenvolle Fragen, die den schönsten Tag versauen können, schlimmstenfalls auch die Nacht. Im Nachhinein erweisen sich viele Sorgen als ziemlich dämlich. Dennoch waren sie wirkungsvoll. Sie haben alle Leichtigkeit geraubt und Schwere hinterlassen.

In diesem Jahr, so kommt es mir vor, ist die Leichtigkeit nahezu weltweit zu einer vom Aussterben bedrohten Art geworden. Viele versuchen, etwas dagegen zu tun. Sie ignorieren einfach alles, was ihnen Leichtigkeit rauben könnte. Verbreitete Maßnahme ist es, den Politikteil der Zeitung weit weg zu legen, denn darin stecken Wörter wie Ukraine, Klima, Gaza, USA und Russland, lauter Killer der Leichtigkeit. Wer all diese Themen meidet, tut es vielleicht, um auf seine seelische Gesundheit zu achten. Das Dumme ist nur, Vermeidung funktioniert kurzfristig durchaus, langfristig lähmt sie und führt letztlich zum völligen Rückzug. Ja, und auch zur Depression. 

Sigmund Freud war ja nicht nur ein Meister der Tiefsinnigkeit. Der Begründer der Psychoanalyse sah im Humor das ganz besondere Rezept, mit dem Leben klarzukommen, denn, so schrieb er 1927: „Der Humor ist nicht resignativ, er ist trotzig.“ Mittelpunkt seiner Überlegungen war folgender Witz: Ein Verbrecher, der am Montag zum Galgen geführt wird, sagt: „Die Woche fängt ja gut an.“ „Der Humor will sagen“, so Freud, „sieh her, das ist nun die Welt, die so gefährlich aussieht. Ein Kinderspiel, gerade gut, einen Scherz darüber zu machen.“

Besonders in lähmender Zeit fallen mir immer mehr die auf, die regelmäßig vorangehen und einfach etwas tun. Zum Beispiel die Männer, die betagte Menschen aus dem Altenheim regelmäßig in Rikschas durch südoldenburgische Landschaften fahren. Frauen und Männer, die Menschen aus Afghanistan, Syrien oder der Ukraine ganz privat die deutsche Sprache vermitteln. Oder auch eine wie die Cloppenburgerin Maria Thien, die mit ihrer Initiative „Kleiner Stern“ seit nun schon 25 Jahren Licht im Leben herz- und krebskranker Kinder leuchten lässt. 

Niemand von ihnen wird die großen aktuellen Krisen beenden beziehungsweise durchgeknallte Despoten menschlich machen, aber sie alle drehen an den kleinen Rädern menschlicher Geschichte. Für sie kommt es nicht infrage, den Verrücktheiten ihrer Zeit gelähmt zuschauen und auch nicht, ihre Wut und Ohnmacht zu verbreiten. Mit beherztem Engagement ziehen sie es vor, sich als Friedensfürstinnen und -fürsten hungernder Seelen zu üben. Ihr Ding ist es, Dinge zu ändern, die man ändern kann, und jene hinzunehmen, die ändern zu wollen vergeblich und überheblich ist. Eine Geisteshaltung wie diese zieht mich mehr und mehr an.

Auf geheimen Wegen

Gastkolumne in OM-Medien am 20. Juli

Ich habe überhaupt nichts gegen Geheimnisse. Jeder sollte eins haben. Meinetwegen auch zwei oder drei. Da bin ich tolerant. Jedenfalls so gut wie immer. Bin ich allerdings mit Auto oder Rad unterwegs, kommt sie mir abhanden, meine Toleranz. Sie gibt dann plötzlich Gas und macht sich von der Piste. Mir ist auch klar, warum: Für ihren Geschmack sind es einfach viel zu viele Geheimniskrämer, die auf deutschen Straßen unterwegs sind. Lauter Menschen, die verheimlichen, ob sie im nächsten Moment links oder rechts abbiegen wollen. Nicht, dass die keinen Blinker beziehungsweise intakten Arm hätten. Haben sie. Allerdings auch ihr Geheimnis. Und das hütet laut ADAC jeder dritte Autofahrer. Mindestens.

Was all diese Fahrerinnen und Fahrer uns von sich verraten, ist nichts als ein Vielleicht. Vielleicht fahren sie geradeaus. Vielleicht auch nicht. Da ich dagegen nichts tun kann, sehe ich gespannt meinem nächsten Überholmanöver entgegen. Stelle mir vor, links rüber zu ziehen. Vom Gegenverkehr droht keine Gefahr, noch ist er ja winzig wie ein Stecknadelkopf. Mit Blick auf die rechte Spur muss ich jedoch mit allem rechnen. Dort ist zwar kein Blinken zu entdecken, aber was heißt das schon?! 

Ich gebe Gas. Meine Augen gehen jetzt getrennte Wege. Mein linkes klebt auf dem, was sich vor mir nähert, mein rechtes auf den Autos, die hoffentlich dort bleiben, wo sie sind: rechts. Mir ist klar, dass mich dieser Schielblick ziemlich wenig attraktiv aussehen lässt. Aber egal, mich sieht ja keiner. Was mir auffällt, ist, dass ich in solchen Momenten doch tatsächlich Sympathie für Menschen entdecke, die sich am rechten Rand befinden und dort bleiben. Doch immer dann fängt in meinem Kopf etwas an zu blinken. Es ist das Wort „vielleicht“. Vielleicht zieht von rechts doch noch einer links rüber. Vielleicht geht alles gut. 

Manchmal weiß ich nicht so recht, was ich von diesem Vielleicht halten soll. Es hat halt so unterschiedliche Gesichter. Wenn zum Beispiel ein Neuer in einen Verein kommt, um mal hineinzuschnuppern, und man ihn einlädt, einzutreten, lautet die Antwort allzu oft: „Vielleicht.“ Auch wenn ich einen Handwerker bitte, meinen Dachschaden möglichst noch vor dem nächsten Regen zu beheben, muss ich mich auf ein Vielleicht einstellen. Was dann bleibt, ist der schale Eindruck, dass jemand sich nicht festlegen will. Auf ihn ist ebenso wenig Verlass wie auf notorische Nichtblinker. Aber wo Verlässlichkeit fehlt, entsteht und hält keine Beziehung.

Doch im Wort “vielleicht“ steckt nicht nur Schlechtes. Es besteht ja aus zwei Wörtern: aus „viel“ und aus „leicht“. Somit bedeutet „vielleicht“,  dass etwas mit viel Leichtheit, also sehr leicht möglich ist. Und das kann mich durchaus positiv in Spannung versetzen. Zum Beispiel dann, wenn ich mir sage, dass vielleicht schon heute das Paket ankommt, auf das ich mich schon seit Tagen freue. „Vielleicht“ hat also auch die Kraft, Hoffnung zu spendieren.

Und ja, ich glaube, ich kann sie schon spüren, diese Hoffnung darauf, dass es jetzt bei ein paar Nichtblinkern anfängt zu blinken. Das wünsche ich mir nicht nur für mich, auch für sie. Denn es lohnt sich nicht, sich mit Geheimnissen in den Verkehr zu wagen. Es sei denn, man sagt sich, dass Geheimnisse am sichersten bei Toten bewahrt sind.

Empört euch!

Gastkolumne in OM-Medien am 8. Juni

Später Nachmittag. Eine 39-jährige Geschäftsfrau betritt den Vorraum einer Bankfiliale. Eine Sicherheitskamera dokumentiert, was nun geschieht: Die Frau bleibt stehen. Eine Sekunde lang schaut sie auf den ausgestreckten Körper eines Mannes, der mitten im Raum liegt. Forsch schlängelt sie sich nah am Kopf des Mannes vorbei zum Automaten. Dort erledigt sie ihre Bankgeschäfte, wirft zwei, drei Blicke auf den Mann am Boden. Die Kamera dokumentiert auch den Elan, mit dem sie zwei Minuten später die Bank verlässt. Sie wirft keinen Blick zurück. Nach ihr kommen einzeln noch drei weitere Kunden. Keiner kümmert sich. Erst ein vierter ruft den Notarzt.

Ein paar Minuten zuvor war der 83-Jährige gestürzt und mit dem Kopf auf dem Fliesenboden aufgeschlagen. Eine Woche später stirbt er.

Dies hat sich in Essen-Borbeck zugetragen, könnte aber überall passieren. Es ist eines von vielen Beispielen himmelschreiender Gleichgültigkeit und Ignoranz. 

Das Wort „Gleichgültigkeit“ hat es in sich. Mit seinen Bestandteilen „gleich“ und „gültig“ zeigt es, dass zwei verschiedene Dinge als gleichermaßen gültig betrachtet werden. Das mag im ersten Moment harmlos klingen, ist es aber nicht. Die Frau in der Bankfiliale hat die Möglichkeiten des Überlebens und des Sterbens eines am Boden Liegenden mit gleicher Gültigkeit betrachtet. So bekommt Gleichgültigkeit etwas Entmenschlichendes. 

Wir alle kennen Beispiele für eigene Gleichgültigkeit, und wir haben Ausreden dafür. Ebenso für unser Nichtstun, wenn Situationen nach Einschreiten oder Widerspruch schreien. Aber wer seine Gleichgültigkeit nicht bekämpft, erstickt eigenes Mitgefühl. So bekommt die Seele Hornhaut. Das Fatale an der Gleichgültigkeit ist: Sie ist von strafrechtlicher Relevanz, denn die Hemmschwelle, Straftaten zu begehen, wird durch mangelndes Mitgefühl sehr niedrig. 

Wer sich in der Literatur mit der Gleichgültigkeit beschäftigt, stößt schnell auf  den französischen Diplomaten, Lyriker und Essayisten Stéphane Hessel. Er kämpfte im Widerstand und überlebte das KZ Buchenwald. 2010 veröffentlichte er mit 93 Jahren einen Essay mit dem Titel „Empört euch!“. Innerhalb von vier Monaten wurden über eine Million Exemplare des Werkes verkauft. Hessel verzichtete auf sein Honorar. Er schrieb den Text als Gegengift zur Gleichgültigkeit, indem er zu einer engagierten Lebenshaltung, zu gewaltloser Revolte und zivilem Ungehorsam aufrief. Seine Überzeugung lautete, „das Schlimmste, was man sich und der Welt antun“ könne, sei die Gleichgültigkeit gegenüber politischen Verhältnissen.

„Neues schaffen heißt, Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt, Neues schaffen“, so das Credo dieses großen alten Mannes. Er formulierte es für eine lebenswerte Zukunft. Sein Aufruf kann gar nicht laut genug erklingen, denn aktuelle Allensbach-Umfragen zeigen,  dass die Mehrheit der Deutschen mit Neuem wenig im Sinn hat. 56 Prozent der Befragten sagen, sie würden lieber in der Vergangenheit als in der Zukunft leben. 

Solche Stimmen sind Musik in den Ohren rechter Populisten, die uns ein nostalgisch verklärtes Gestern einbimsen und eine Zukunft frei von Zumutungen versprechen – nach dem Motto: Ihr dürft so bleiben, wie ihr seid. Doch das klappte noch nie. In keiner Epoche.

Deutschland und Europa können nicht bleiben, wie sie sind. Nicht, dass sie, wie der Mann in der Bank, zusammengebrochen wären. Sie sind angeschlagen. Aber in ihren Adern fließt das Blut der Demokratie. Wer sich jetzt bei der Wahl nicht für diese zwei Patienten stark macht, überlässt sie gleichgültig denen, denen die Würde des Menschen scheißegal ist.

Und dann das Unfassbare

Gastkolumne in OM-Medien am 27. April

Tausende um mich herum. Dicht gedrängt. Keiner sagt etwas. Weit und breit nichts als kollektiv starres Stieren nach vorne. So, als dürfte hier, vor dem Capitol in Washington, niemand verpassen, was im nächsten Moment geschehen soll. Dann Bewegung zwischen den mittleren Säulen des Portals. Donald Trump betritt eine Bühne. In deren Zentrum hält er inne. Die Luft fängt an zu brennen. Dann das Unfassbare: Dieser Mann geht auf die Knie. Und mit Blick auf seine gefalteten Hände sagte er: „Ich bin hier, um euch um Vergebung zu bitten und um Dank zu sagen. Meinen Dank an alle, die mir ihre Stimme verwehrt haben. Denn ihr seid es, die mich und die Nation vor mir geschützt haben.“

Mehr habe ich nicht mitbekommen. Mein Wecker bimmelte mich in den Wachzustand. Macht aber nichts, man kann ja auch hellwach weiterträumen. Zum Beispiel von Demut und Dankbarkeit. Ich weiß, zwei Begriffe, die heutzutage etwas verstaubt klingen. Wer demütig auf die Knie fällt, so die verbreitete Auffassung, knickt ein. Wer sich nie beugt, gewinnt jeden Kampf und wird von aufblickenden Heerscharen erhöht. 

Kniefälle sind nicht en vogue und gelten schon gar nicht als cool. Und doch gibt es einen Kniefall, der in besonderer Weise Geschichte gemacht hat. 1970 war der damalige Kanzler Willy Brandt nach Warschau gereist. Er wollte einen Vertrag zwischen Polen und Deutschland unterzeichnen. Außerdem war er gekommen, um einen Kranz am Ehrenmal des Warschauer Ghettos niederzulegen. Dann passierte es: Brandt fiel auf die Knie, faltete seine Hände. Keine halbe Minute lang, aber es war eine gefühlte Ewigkeit. Das war nicht geplant, aber es bewegte und überzeugte, wie nur eine Herzensangelegenheit es kann. 

Das zu tun, brauchte Mut. Und zwar den einer ganz bestimmten Art: Sie heißt Demut. Der Autor Tobias Hürter nennt dieses Verhalten in der Wochenzeitung „Die Zeit“ „eine große Geste, nicht weil Brandt sich selbst mit ihr groß machte, sondern weil er mit ihr auf etwas Größeres verwies.“

Das ist der Punkt. Brandt  konnte anerkennen, dass es etwas Größeres gibt als das eigene Ich. Und das waren für ihn die Millionen Morde seines eigenen Landes. Dies ist eine Fähigkeit, die derzeit vielen populistischen Emporkömmlingen auf den politischen Bühnen abgeht. Sie halten Demut für eine Untugend, die allenfalls blöd parierenden Schafen gut steht. Demut ist für sie mit Freiheit und Selbstbestimmung nicht unter einen Hut zu bringen. 

Doch wer demütig seinen Blick zum Boden richten kann, kann sich erden. So einer ist bereit, seine Stärken und Schwächen ebenso zu betrachten wie seine lichtvollen und dunklen Seiten. Er kann akzeptieren, dass die Welt sich nicht um ihn selbst dreht. Demut bedeutet dann, so Tobias Hürter, auf Distanz zu gehen zu den eigenen Zielen, Stärken und Ängsten. „Sie ist eine Art von Realismus. Ein Gegenkonzept zum Egozentrismus.“ Und somit ist Demut eine Voraussetzung für gelingende Gemeinschaft. In solch einem Umfeld kann Dankbarkeit wachsen. Sie zu haben, fühlt sich nicht einfach nur gut an. Sie bringt Menschen auch in Beziehung zu anderen. Und somit ist sie gesund für die Gesellschaft.

Zwei Zeilen mit hundsgemeiner Wucht

Gastkolumne in OM-Medien zum 16. März

Der Samstag hatte so verheißungsvoll begonnen. Dann, um 13.49 Uhr, meldet sich mein Handy. Per WhatsApp war eine Nachricht gekommen. Nur zwei Zeilen zeigten sich im Display. In ihrer Kürze steckte eine hundsgemeine Wucht. Es war, als schössen mir die Zeilen unvermittelt in die Kniekehlen. Sie sagten mir, dass Bernd am Morgen dieses Tages plötzlich gestorben sei. Augenblicklich sah ich vor meinem geistigen Auge, wie ich vier Tage zuvor mit ihm Musik gemacht hatte. Wie jeden Dienstagabend im Stapelfelder Parforce-Ensemble. Doch sogleich blitzte eine Prise Glück in mir auf, denn bei dieser Probe hatte ich ein paar Takte mehr als sonst mit ihm geredet. In diesem kurzen Gespräch war mir deutlich geworden, wie sehr ich seine stille Zugewandtheit, sein Lachen, seine Bescheidenheit liebte. 

Die Nachricht dieses Samstags lag tagelang wie ein staubgraues Laken über mir. Unter ihm verloren selbst Putin, Trump, Klimasorgen und Hamas ihre toxische Wirkung. Bernds Tod war in diesen Tagen giftiger. Wie ein Gegengift hätte es auf mich gewirkt, in sein lachendes Gesicht zu blicken. Es hätte mich zum Lachen gebracht. 

Aber wäre das angebracht gewesen? Während mir das durch den Kopf ging, stieß ich auf einen Beitrag im „Tagesspiegel“.  Darin wird der Arzt und Kabarettist Dr. Eckart von Hirschhausen gefragt, ob es zulässig sei, dem Tod mit Humor zu begegnen. Seine Antwort: „Fragen Sie mich im nächsten Leben nochmal.“ Hin und wieder wollten Journalisten von ihm wissen, was man an seinem Grab über ihn sagen solle. „Was man sagen soll? Ist doch klar: ,Oh, er bewegt sich noch.` Das wünsche ich mir“, sagt von Hirschhausen. „Außerdem möchte ich nicht im Gedenken der Menschheit weiterleben, sondern viel lieber in meiner Wohnung.“

Barbara Wild weiß, dass Humor hilft, schwere Themen auszusprechen und zu bewältigen. Die Tübinger Professorin ist Ärztin für Neurologie und befasst sich wissenschaftlich mit dem Thema Humor. In der „Zeit“ berichtet sie von ihren Humortrainings, in denen sie Teilnehmerinnen einen Stapel Cartoons vorlegt. Jede soll sich den herausziehen, den sie am witzigsten findet. Dabei fällt auf, dass die meisten zu einem Cartoon greifen, der mit ihnen selbst zu tun hat. Die Ärztin nennt ein Beispiel: Ein Bild zeigt eine ältere Dame, die auf dem Gipfel eines Berges im Rollstuhl sitzt. Hinter ihr eine jüngere Frau, die den Rollstuhl hält und denkt: „Manchmal muss man auch loslassen können.“ 

Aber was fand die Frau an diesem makabren Cartoon so erheiternd? Als sie es erklärte, „kamen ihr plötzlich die Tränen, und es brach förmlich aus ihr heraus“, sagt Barbara Wild. Die Frau erzählte, dass sie sich um ihre pflegebedürftige Mutter kümmern müsse und wie furchtbar belastend das sei. Im besten Fall, so die Ärztin, erinnere sich die Frau an das Bild, wenn sie das nächste Mal an der Pflege ihrer Mutter verzweifele und ihre negativen Gefühle etwas loslassen könne.

Überhaupt nicht makaber finde ich es, wenn ich beim Thema Humor an Hospize denke. Nicht zuletzt an das Cloppenburger Hospiz namens Wanderlicht. Dort herrscht keine Grabesstille. Oft wird dort musiziert, gesungen und gelacht. Möglich ist das, weil dort Ärzte und Pflegerinnen tätig sind, die den Tod nicht als Scheitern ihrer Profession ansehen. Für sie ist er Teil des Lebens, den sie begleiten und gestalten können. Wer das lachend leistet, wirkt entlastend. Nicht, indem er Probleme weglacht. Das klappt nicht. Aber wer sie mit Humor betrachtet, wechselt seine Perspektive. Das führt zu neuen Gedanken. Und dazu, das Leben augenzwinkernd ernst zu nehmen. 

Beziehungsstatus: Es ist kompliziert

Gastkolumne in OM-Medien zum 3. Februar

Sie lässt sich schlichtweg alles gefallen. Man kann ihr vorwerfen, Hass zu schüren, die Inflation voranzutreiben und sogar Kriege anzuzetteln – sie lässt jeden Schuldspruch über sich ergehen. Und das auf geradezu devote Weise. Aber es ist nicht richtig, ihr jeden Mist in die Schuhe zu schieben. Okay, hin und wieder loben wir sie auch übern grünen Klee. Zum Beispiel dann, wenn wir sagen, sie, die Zeit, heile alle Wunden. Aber auch das ist nicht richtig. Es ist sogar Unfug, denn die Zeit tut nichts. Sie ist einfach nur da, steht uns zur Verfügung. Jederzeit. Dennoch ist es gar nicht so leicht, liebevoll mit ihr anzubandeln. Befragt nach unserer Beziehung zur Zeit, müssten wohl die meisten sagen: Es ist kompliziert. Wie sehr das zutrifft, verrät schon das Wort „Zeitvertreib“. Es klingt, als wollten wir böse Geister vertreiben. 

Aber warum vertreiben, steckt doch in jedem Tag, jedem Moment ein ganz besonderes Flair: das der Unwiederbringlichkeit. Leider nehmen wir es nur selten wahr. Wenn wir die Geburt eines Kindes miterleben, wird das Flair einer neuen Zeit beeindruckend spürbar. Wenn wir einen geliebten Menschen sterben sehen, erwischt uns die ganze Wucht einer zu Ende gehenden Zeit mit ihrer Unwiederbringlichkeit.

Wer nicht den Verlust eines Menschen zu ertragen hat, spürt in dieser Zeit der Kriege und menschenverachtenden Naziparolen den Verlust jeglicher Sicherheit. Allerorts sucht man nach Worten für das aktuelle Geschehen und nennt es Zeitenwende. Mittlerweile habe ich etwas gegen diesen Begriff, denn er lähmt, weil er impliziert, dass die Zeit eh nur ihr eigenes Ding macht. Aber das ist ein Irrglaube. Halten wir an ihm fest, können wir kaum noch anders, als in Schockstarre zu fallen. Das wäre dann sinnlos vergeudete Zeit. 

Wenn ich nun sage, Dankbarkeit könnte eine belebende Alternative sein, klingt das vielleicht erstmal wie ein schlechter Witz. Aber danach ist mir nicht zumute. Jeder, der schon einmal schwer erkrankt war, kennt das Sehnen nach Genesung. In solchen Phasen wäre wohl jeder unendlich dankbar für Gesundheit. Im Alltag nehmen wir fast alles als selbstverständlich gegeben hin. Erst wenn etwas fehlt, erkennen wir glasklar dessen Wert.

Das sollten wir schleunigst ändern. In diesem noch so jungen Jahr sehe ich dazu eine prima Gelegenheit. Weil 2024 ein Schaltjahr ist, spendiert uns der Februar einen Tag mehr als sonst. Mein Vorschlag: ihn nicht mit noch mehr Aufgaben zu füllen und ihn einfach pflichtbesoffen zu schlucken. Ich stelle es mir belebend vor, diesen Tag (oder einen anderen) bewusst wie einen zu betrachten, der für uns von irgendeinem Stern gefallen ist. Es geht nicht darum, an diesem Tag die rosarote Brille aufzusetzen, sondern darum, uns auf wertvolle Kleinigkeiten im Alltag zu konzentrieren

 – auf das behaglich warme Zimmer, auf das Wunderwerk eines Schneekristalls oder auf das freundliche Lächeln eines Menschen, von dem wir nichts als Kritik erwartet haben. Oder wir könnten uns fragen, welche Menschen uns durch ihr Wesen bereichert haben. Ein Danke, das wir dann über die Lippen bringen, ist bestens verbrachte Zeit. Denn es wirkt wie ein Bindemittel in einer aus den Fugen geratenen sozialen Welt.

Die schönste Bescherung

Gastkolumne in OM-Medien zum 23. Dezember

Es sieht noch finsterer um die großen Kirchen aus, als bisher angenommen. Und das sogar im Winter, wenn es allerorts illuminierte Weihnachtssehnsucht schneit. Eine Umfrage des Markt- und Sozialforschungsinstituts INSA und eine Forsa-Studie führen dies frostig vor Augen: 

Der Anteil der Menschen, die sich noch zu einer christlichen Gemeinschaft zählen, werde im kommenden Jahr unter 50 Prozent sinken. So die Hamburger Theologieprofessorin Kristin Merle in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Aktuell seien 20 Prozent der Katholiken fest entschlossen, aus ihrer Kirche auszutreten. Bei den Protestanten seien es 17 Prozent. Und selbst zu Weihnachten verlieren Kirchen ihren Magnetismus. Nur noch jeder vierte Befragte hat vor, Heiligabend zur Christmette zu gehen. Dabei galt dieser Tag bisher als Ausnahmetermin. Verlässlich zog er Weihnachtschristen an, also jene, die nur einmal pro Jahr in die Kirche gehen. Darum begreifen Priester und Pfarrerinnen den Heiligabend schon lange als wertvollsten Marketing-Tag des Jahres. Kein Wunder also, dass sich die meisten von ihnen da besonders ins Zeug legen.

Wenn sich dennoch all ihre Bemühungen nicht so richtig auszahlen, könnte man meinen, der moderne Mensch habe jegliche Offenheit für Transzendenz verloren. Dagegen würde der russische Religionsphilosoph und einstige Marxist Nikolaj Berdjajew protestieren – wenn er noch leben würde. Er war der Überzeugung: „Der Mensch ist unheilbar religiös.“ Und gewissermaßen bestätigt das die Forsa-Studie. Kristin Merle liest aus ihr eindeutig ein religiöses Bedürfnis. Sie sagt, die Menschen seien offen für Erlebnisse, „die sie spüren lassen, dass es etwas Größeres, Tragendes gibt.“ Allerdings finden sie dieses Größere kaum in der Kirche.

Klar, es ist für Geistliche kein leichter Job, uns Heutigen glaubhaft zu vermitteln, dass der Zimmermann namens Jesus Gott ist. Schließlich sind wir es gewohnt, nahezu alles wissenschaftlich belegt zu bekommen. Historisch belegt ist allenfalls, dass dieser Jesus aus Nazareth existiert hat. Aber ihn auf einer göttlichen Säule zu sehen, ist eine andere Liga. Genau das ist allerdings nicht erforderlich. Es wäre sogar falsch. 

In der Kirche ist zu hören, Gott sei Mensch geworden. Mich hat diese Aussage nie so richtig erreicht. Sie ist mir zu abstrakt. Hinzu kommt, durch unzähliges Hören hat diese Formulierung ihre Angelhaken in mir verloren. Sie streift mich allenfalls wie eine abgelutschte Schnur. Nachdenklich hingegen hat mich eine Formulierung des brasilianischen Theologen Leonardo Boff gemacht. Er schildert, was in den ersten Christen vor 2000 Jahren vorgegangen ist. Tief beeindruckt sagten sie sich: „So menschlich wie Jesus kann nur Gott sein. Und da begannen sie, ihn Gott zu nennen.“

Das heißt für mich, Menschen, die diesen Mann erlebt haben, haben ihn mit ihresgleichen auf untrennbare Weise zusammengebracht. Genau das ist für mich das Außerordentliche des Christentums. Denn es bedeutet ja nicht nur, dass die ersten Christen in ihm etwas wunderbar Göttliches erkannt haben. Es bedeutet auch, dass wir Menschen Göttliches tun können. Wie das geht? Indem wir Blinde sehend machen. Überall stecken Menschen dermaßen im Schlamassel, dass sie ihre Möglichkeiten nicht mehr erkennen. Sie sind blind. Wir können uns auf sie einlassen und ihnen Durchblick verschaffen. Wir müssen es nur tun, und schon haben wir die schönste Bescherung.

Damit hatte ich nicht gerechnet

Gastkolumne in OM-Medien zum 11. November

Wissen kann richtig weh tun. Das habe ich kürzlich bei einer Einladung zum Kaffee begriffen. Am Tisch ging es nicht ausschließlich um die köstliche Marzipantorte der Gastgeberin, auch um die unappetitlichen Themen dieser Zeit. Damit hatte ich durchaus gerechnet, da ich in einer Runde informierter und kritischer Köpfe saß. Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass mein Gegenüber die Tagesschau an den Pranger stellte. Die Anklagepunkte lauteten: nur noch schreckliche Nachrichten, übertrieben dramatisiert und nicht mehr auszuhalten. Ein Blick ins empörte Gesicht der Klägerin sagte mir zweifelsfrei: Aktuelle Kriseninfos haben ihre Schmerzgrenze massiv überschritten. 

Unser Bundespräsident drischt nicht auf professionelle Medien ein, aber er kann nachvollziehen, was in Konsumenten aktueller Nachrichten vorgeht. In seiner Rede zum 100. Geburtstag des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein beklagte er eine „News-Erschöpfung“. Immer weniger Leser, Hörer und Zuschauerinnen schafften es, so Frank-Walter Steinmeier, in den sich „überstürzenden Nachrichtenlagen“ den Überblick und die Nerven zu behalten. Von Bürgerinnen und Bürgern wisse er, dass viele „in einer Art Selbstschutz“ zu Nachrichten-Verweigerern werden. „Andere ziehen sich zurück in eine Parallelwelt, in der Wahnsinn, Verschwörung und erfundene Wahrheit regieren.“

Steinmeiers Eindrücke werden vom Hamburger Hans-Bredow-Institut untermauert. Laut dessen Untersuchung meiden 45 Prozent der Befragten in Deutschland Nachrichten über den Krieg in der Ukraine und 27 Prozent Informationen über den Klimawandel. Schmerzhafter Haken an der Sache ist: Wer wesentliche Informationen ausblendet, kann kaum gute (Wahl-)Entscheidungen treffen und schon gar keine Lösungen für eine bessere Zukunft finden. 

Die große Paradoxie unserer Zeit ist: Nie konnte die Menschheit über mehr Informationen verfügen als heute, und noch nie war die Gefahr so groß, genau aus diesem Grund weniger zu wissen. 

In seinem Bestseller „12 Gesetze der Dummheit“ schreibt der Neurowissenschaftler Dr. Henning Beck: „Allein die Tatsache, dass wir einen hohen IQ haben, heißt noch lange nicht, dass wir der Dummheit entkommen wären. Das Gegenteil kann mitunter der Fall sein.“ Schließlich handeln wir vielfach wider unsere Existenz. Wir wissen, dass wir unser Verhalten – nicht nur hinsichtlich Klima und Artensterben – rasant ändern müssen, tun es aber allenfalls marginal. Viel lieber vertrauen wir darauf, das Problem, wenn es irgendwann mitten im Raum vor uns steht, schon irgendwie verscheuchen zu können. 

Dass wir uns mit der Zukunft schwer tun, verrät schon unsere Sprache. Wir sagen nicht: „Ich werde morgen ins Kino gehen.“ Wir sagen: „Ich gehe morgen ins Kino.“ Die Gegenwart erscheint uns greifbarer. Unsere Zukunft wirkt eher abstrakt, so, dass es schwer fällt, sich für sie ins Zeug zu legen. Am ehesten tun wir das, wenn wir glauben, dass unser persönlicher Nutzen deutlich spürbar wird. Und zwar sofort. Sofort ist allerdings nichts zu erwarten, wenn wir heute fürs Alter vorsorgen oder uns entschließen, gesund zu leben. 

Das Typische an Krisenzeiten ist: Sie gebären Pessimisten. Zugegeben, viele von ihnen sind gute Analytiker. Sie klingen schlau, neigen aber dazu, Themen zu verkomplizieren. Was es braucht, sind unzufriedene Optimisten. Mit ihrem Lebenshunger bringen sie es fertig, aus der letzten Mandel dieser Welt eine Marzipantorte zu zaubern.

Der Hammer

Gastkolumne in OM-Medien zum 30. September.

Er hatte, was ich nicht hatte: Einsen und Zweien, wo bei mir Vieren und eine Fünf im Zeugnis standen. Seine Beine steckten in Levi`s-Jeans, meine in Spießerhosen. Mit vierzehn hätte eine Levi’s mein Budget gesprengt. Sie kostete neununddreißig Mark neunzig. Er holte sich einfach eine. Noch eine und noch eine. Das konnte er, weil er sich bei einem Floristen als radelnder Bote täglich fünf Mark verdiente. 

Während ich noch aus pickeligen Selbstzweifeln bestand, gab er sich selbstbewusst. Er sagte, was er dachte. Vor einem, der ihm nicht schmeckte, baute er sich auf, preschte bis auf Streichholzlänge heran und schrie: „Aus deinem Mund stinkt’s wie aus `nem Gulli.“ 

Wer ihm – ich nenne ihn mal Björn Stöcke – widersprach, wurde auf dem Schulhof zum Schweigen gebracht. Ich weiß noch, wie Bernhard ihm dort verbal die Stirn bieten wollte. Unser Klassenheld ließ es nicht dazu kommen. Er dröhnte Bernhard die Faust ins Gesicht. Derartige Brutalität hatte ich bis dato nur in Western gesehen. Zwei Mädchen standen abseits. Bei ihnen hatte ich nie eine Chance gehabt, unser Levi’s-Mann hingegen hatte ihre Bewunderung. Jetzt so richtig. Das war ihren Augen erschreckend deutlich anzusehen. 

Das Merkwürdige war: Es gab kaum einen, der unseren Björn wirklich mochte, dennoch hatten wir ihn zum Klassensprecher gewählt. Und hätten wir ihn zum Kanzler machen können, hätten wir vermutlich auch das getan. 

Warum? Ganz einfach: Er hatte Verstand und den Mut, die tabuisierten Grenzen des Sagbaren zu verschieben. Mit ihm an der Seite, glaubte jeder Pimpf zur Persönlichkeit zu mutieren.

Man muss nicht in der Pubertät stecken, um auf solche Menschen abzufahren. Ihre Anziehung wirkt auf Männer und Frauen jedes Alters. Besonders dann, wenn deren Ohnmachtsgefühl in einer immer komplizierteren Welt wächst und wächst.

Bei ihnen trifft die AfD mit ihrem Populismus der einfachen Lösungen ins Schwarze. Wie sehr, das zeigt das Ergebnis einer Studie des Gesellschaftsforschers Dirk Ziems. Demnach glauben AfD-Anhänger: Man hätte 2008 in der Finanzkrise die „gierigen Banken bestrafen sollen“. Man hätte 2015 in der Flüchtlingskrise die Grenzen dicht machen sollen. In Sachen Klima sollte man sich China und die USA vorknöpfen. Und mit Putin sollte man sich verständigen, „dann hätten wir wieder günstiges Gas.“

Doch das sind Scheinlösungen. Die politische Realität ist komplizierter. Der AfD-Politiker Björn Höcke ignoriert sie mit Methode. Immer wieder spricht er denen, die sich politisch unverstanden und nicht beachtet fühlen, mit einem Vokabular aus der Seele, das in Adolf Hitlers Hirn geboren ist. In einer Rede in Sachsen-Anhalt schrie er seinem Publikum entgegen: „Die Deutschen müssen sich fragen und entscheiden: Wollen sie Hammer oder Amboss sein?“ Damit bezieht er sich auf eine Rede Hitlers, die er 1919 vor der Deutschen Arbeiterpartei gehalten hat. Dort sagte er: „Wer nicht Hammer sein will, der muss Amboss sein. Wir sind jetzt in Deutschland Amboss.“

Derartige Äußerungen brechen nicht nur Tabus. Sie sind diabolisch, denn sie fördern die Erosion allen politischen Restvertrauens. Klar, Demokratie braucht Skepsis und hellwache Kritiker. Durch sie schöpfen wir die Energie, die wir brauchen, um voran zu kommen. Aber Heißmacherei und polemische Schwarzmalerei geben der Demokratie den Rest.