Der Schräge

„Glaubst du wirklich, dass du hier hingehörst“, fragte einer der Aufrechten den Schrägen. „Glaub schon“, sagte der Schräge. „Wieso?“
„Schau dich doch mal um, hier steht man gerade.“
„Hab ich schon gesehen. Aber einfach nach oben ist halt der schnellste Weg zum Licht.“
„Nicht nur das“, sagte der Aufrechte, „man macht auch ’ne bessere Figur.“
„Ach so“, sagte der Schräge, „ich dachte schon eure Haltung wär ’n Strammstehen vor der Sonne.“
„Strammstehen? Wir sind halt integriert. Was man von dir nicht gerade sagen kann.“
„Macht doch nichts“, sagte der Schräge. „Integration ist ’ne prima Sache, klingt aber so vornehm, dass ich manchmal misstrauisch werde.“
„Warum?“
„Weil dahinter ’ne Anpassung steckt, die ich lieber Unterwerfung nennen würde. Nicht immer. Aber ab und zu. Und ziemlich oft.“ ?

So total offen

„Hey, was hast du denn vor?“ fragte der Baum.
„Ich muss da rein.“
„Biste ja schon. Ohne mich zu fragen.“
„Wieso fragen? Auf mich wirktest du total offen. Da dachte ich, du hättest bestimmt Platz für so ’n kleines Geheimnis.“
„Was denn für ’n Geheimnis?“
„Für mich. Keiner darf mich finden, und ich will keinen mehr sehen.“
„Haste was verbrochen?“
„Ne, noch nie.“
„Versteh ich nicht“, sagte der Baum.
„Ja, guck dir doch mal die Welt an. Alles voll von Verbrechern. Da kriegt man doch Angst. Du etwa nicht?“
„Bisher nicht.“
„Boah, du hast Nerven.“
„Ich glaube, ich hab hier oben nur `ne bessere Aussicht.“
„Was siehste denn da?“
„Ganz viel Gutes. Typen wie dich zum Beispiel. Wenn die nicht mehr da sind, kriege ich auch Angst. Vielleicht.“

Er gibt den Stacheln zu trinken

Revanche fällt ihm nicht ein.
Sanft schiebt er seinen Rindenmantel
über eiserne Krallen.
Tut es mit Langmut.
Hält aus wie ein Liebender
und gibt den Stacheln zu trinken von dem,
was in ihm steckt.
© Andreas Klaene

Was zum Anlehnen und Aufschauen

Man braucht ja was zum Aufschauen.
Und hin und wieder zum Anlehnen.
Man kann sich auch dran reiben.
Und man kann von so ’nem Riesen träumen.
Und davon, dass man selbst noch viel größer
als er und der Riese nur ein Zahnstocher ist.
Aber dann hat man keinen mehr zum Anlehnen.
© Andreas Klaene

Die Aufrechte

Wie oft schon
habe ich dich gesehen, ohne dich anzusehen.
Lief stets an dir vorbei,
hin zu Palästen aus Gedankensteinen.
Du standest davor wie ein Gardist.
Aufrecht, alles sehend, mucksmäuschenstill.
Warst nie auf Beachtung aus.
Erst heute bleibe ich stehen, „Die Aufrechte“ weiterlesen

Auge des Waldes

Er nimmt Verletzungen hin,
vergisst sie aber nicht.
Aus seinen Wunden wachsen Augen.
Sie sehen uns an,
erzählen von Stürmen,
von flüsternden Nächten,
vom kathedralen Klang
des Frühlingsmorgens
und von allem,
was wir von ihm erfahren wollen.
Vom Baum.

Andreas Klaene

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Altersschönheit

Es gibt sie,
diese Schönheit des Alters.
Bei Menschen
wie bei Bäumen.
Wer sie entdeckt,
fühlt sich verführt,
sie zu betrachten,
in ihren Formen,
ihren Linien,
ihrem Ausdruck zu lesen,
was Jugend
nicht beschreiben kann.

Andreas Klaene