Damit hatte ich nicht gerechnet

Gastkolumne in OM-Medien zum 11. November

Wissen kann richtig weh tun. Das habe ich kürzlich bei einer Einladung zum Kaffee begriffen. Am Tisch ging es nicht ausschließlich um die köstliche Marzipantorte der Gastgeberin, auch um die unappetitlichen Themen dieser Zeit. Damit hatte ich durchaus gerechnet, da ich in einer Runde informierter und kritischer Köpfe saß. Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass mein Gegenüber die Tagesschau an den Pranger stellte. Die Anklagepunkte lauteten: nur noch schreckliche Nachrichten, übertrieben dramatisiert und nicht mehr auszuhalten. Ein Blick ins empörte Gesicht der Klägerin sagte mir zweifelsfrei: Aktuelle Kriseninfos haben ihre Schmerzgrenze massiv überschritten. 

Unser Bundespräsident drischt nicht auf professionelle Medien ein, aber er kann nachvollziehen, was in Konsumenten aktueller Nachrichten vorgeht. In seiner Rede zum 100. Geburtstag des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein beklagte er eine „News-Erschöpfung“. Immer weniger Leser, Hörer und Zuschauerinnen schafften es, so Frank-Walter Steinmeier, in den sich „überstürzenden Nachrichtenlagen“ den Überblick und die Nerven zu behalten. Von Bürgerinnen und Bürgern wisse er, dass viele „in einer Art Selbstschutz“ zu Nachrichten-Verweigerern werden. „Andere ziehen sich zurück in eine Parallelwelt, in der Wahnsinn, Verschwörung und erfundene Wahrheit regieren.“

Steinmeiers Eindrücke werden vom Hamburger Hans-Bredow-Institut untermauert. Laut dessen Untersuchung meiden 45 Prozent der Befragten in Deutschland Nachrichten über den Krieg in der Ukraine und 27 Prozent Informationen über den Klimawandel. Schmerzhafter Haken an der Sache ist: Wer wesentliche Informationen ausblendet, kann kaum gute (Wahl-)Entscheidungen treffen und schon gar keine Lösungen für eine bessere Zukunft finden. 

Die große Paradoxie unserer Zeit ist: Nie konnte die Menschheit über mehr Informationen verfügen als heute, und noch nie war die Gefahr so groß, genau aus diesem Grund weniger zu wissen. 

In seinem Bestseller „12 Gesetze der Dummheit“ schreibt der Neurowissenschaftler Dr. Henning Beck: „Allein die Tatsache, dass wir einen hohen IQ haben, heißt noch lange nicht, dass wir der Dummheit entkommen wären. Das Gegenteil kann mitunter der Fall sein.“ Schließlich handeln wir vielfach wider unsere Existenz. Wir wissen, dass wir unser Verhalten – nicht nur hinsichtlich Klima und Artensterben – rasant ändern müssen, tun es aber allenfalls marginal. Viel lieber vertrauen wir darauf, das Problem, wenn es irgendwann mitten im Raum vor uns steht, schon irgendwie verscheuchen zu können. 

Dass wir uns mit der Zukunft schwer tun, verrät schon unsere Sprache. Wir sagen nicht: „Ich werde morgen ins Kino gehen.“ Wir sagen: „Ich gehe morgen ins Kino.“ Die Gegenwart erscheint uns greifbarer. Unsere Zukunft wirkt eher abstrakt, so, dass es schwer fällt, sich für sie ins Zeug zu legen. Am ehesten tun wir das, wenn wir glauben, dass unser persönlicher Nutzen deutlich spürbar wird. Und zwar sofort. Sofort ist allerdings nichts zu erwarten, wenn wir heute fürs Alter vorsorgen oder uns entschließen, gesund zu leben. 

Das Typische an Krisenzeiten ist: Sie gebären Pessimisten. Zugegeben, viele von ihnen sind gute Analytiker. Sie klingen schlau, neigen aber dazu, Themen zu verkomplizieren. Was es braucht, sind unzufriedene Optimisten. Mit ihrem Lebenshunger bringen sie es fertig, aus der letzten Mandel dieser Welt eine Marzipantorte zu zaubern.

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