Eigentlich kann ich mich glücklich schätzen. Wenn meine Stimmung nämlich mal finster ist, weiß ich immerhin, wo der Lichtschalter sitzt. Ich muss nur die richtige Musik einschalten. Und das so laut, dass die Bässe meines Subwoofers das Zwerchfell flattern lassen. Das Verrückte ist, dass ich manchmal dennoch nicht zum Schalter greife. So auch kürzlich. Per Skype hatte ich ein langes Gespräch mit einem befreundeten Ehepaar. Endlich, denn tagelang waren die beiden in Odessa nicht zu erreichen. Nun sind sie vor dem russischen Beschuss geflohen und in Wien angekommen. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Dennoch setzte mir das Gespräch zu. Ich hörte, was sie mitnehmen konnten: das, was in ihren Kleinwagen passte. In ihren Augen sah ich, was sie in Odessa lassen mussten: alles, was ihr Leben ausmachte.
Nach dem Gespräch schaute ich auf meine Playlist. Zufällig landete mein Blick auf „Leningrad“ von Billy Joel. Er beschreibt in seinem Lied das Leben Victor Razinovs, der seinen Vater während der Belagerung Leningrads im Zweiten Weltkrieg verloren hatte. Victor wurde Soldat der Roten Armee, versuchte, seinen Schmerz mit Wodka zu lindern und wurde schließlich zum Zirkusclown, um russische Kinder glücklich zu machen. „Leningrad“ war der Sound, den ich jetzt brauchte. Auch der Text, der für mich in diesem Moment nur sekundär war, passte. Aber ich ließ Joel schweigen. Warum? Zu viel Klanggenuss. Jedenfalls unmittelbar nach dem Videogespräch, bei dem ich das Leid von Freunden spüren konnte. Ganz diffus meldete sich ein schlechtes Gewissen.
Die Hamburger Psychotherapeutin Maren Lammers sieht darin ein verbreitetes Phänomen, das einen Namen hat. In der Süddeutschen Zeitung spricht sie von „Überlebendenschuld“, einem Begriff aus dem Vietnamkrieg. Zurück in den USA hätten viele Soldaten sich nicht darüber freuen können, am Leben zu sein. Sie hätten geglaubt, kein Recht mehr auf Unbeschwertheit zu haben. Aktuell gehe vielen die Frage durch den Kopf, ob sie nicht doch mehr gegen das Leid der Ukrainer tun könnten. Daraus entstehe ein Schuldgefühl. Aber man solle genau prüfen, sagt Maren Lammers, wo die eigenen Grenzen liegen. „Es nutzt niemandem, wenn Sie sich überfordern.“ Um helfen zu können, müsse es einem selbst einigermaßen gut gehen. Nicht umsonst heiße es im Flugzeug: „Ziehen Sie erst sich selbst die Sauerstoffmaske über und dann denen, die es allein nicht können.“ Ihr Rat lautet: „Nehmen Sie das Schöne an, das Ihnen das Leben bietet, um daraus Kraft zu schöpfen.“
Lettland schafft das mit Musik. Die ist dort eine mächtige Tradition. Nicht nur, dass jeder Zweite in einem Chor singt, in Zeiten sowjetischen Terrors erlebte das Land, wie stärkend es ist, in der Musik Gedanken und Emotionen miteinander zu teilen. Am 23. August 1989 reichten sich zwei Millionen Lettinnen und Letten 15 Minuten lang die Hände, schufen so eine gigantischen Kette und erfüllten ihre Heimat mit revolutionierendem Gesang. Zwei Jahre später erklärte das Land seine Unabhängigkeit.
Ich werde wohl kaum zum Revolutionär, aber zu einem, der bei nächster Gelegenheit „Leningrad“ genießt.