In gewissen Situationen kann man einen recht gewöhnlichen Satz wie eine kalte Dusche empfinden. Zum Beispiel diesen: „Die Beisetzung hat im engsten Familienkreis stattgefunden.“ Meistens kann ich diesen Satz ignorieren. Nicht jedoch, wenn ich beim Zeitunglesen völlig unvorbereitet in einer Todesanzeige auf den Namen eines Menschen stoße, der mir wichtig war. In solchen Momenten wird mir schlagartig klar, dass mir nichts mehr möglich ist. Kein letztes Gespräch, nein, nicht einmal das, was der Volksmund als letzte Ehre am noch offenen Grab bezeichnet. Dass die Anzeige mir nicht verrät, wann die Trauerfeier stattgefunden hat, kann ich dann irgendwie noch schlucken. Aber wenn sie nicht einmal den Beisetzungsort preisgibt, kommt ein flaues Gefühl auf. Warum? Weil es mir wichtig ist, jederzeit die Möglichkeit zu haben, das Grab eines Menschen aufzusuchen, der mir nahestand.
Mir ist schon klar, dass kaum einer den zitierten Satz mit ausgrenzender Absicht formuliert. Corona hat ihn uns einst diktiert, und wir haben uns weitenteils an ihn gewöhnt. Doch genau das sollten wir nicht tun, jetzt, wo Corona auf Beerdigungen längst nicht mehr so viel zu sagen hat. Natürlich kann man todverachtend über formalisiertes und ritualisiertes Trauern lächeln, aber das Wort von der letzten Ehre war, ist und bleibt ein wertvolles Wort. Denn auch wenn man die Niedergeschlagenheit der Angehörigen nicht teilt, ehrt man so den Verstorbenen und die, die um ihn trauern. Und noch etwas: Neben dem frischen Erdhügel verharrend, stehen Zeit und Leben ein paar Atemzüge lang still. Man taucht für Sekunden in sich selbst ein und spürt die eigene Seele, die ihre Endlichkeit begreift.
Die nun beginnenden Novembertage stehen kalendarisch nicht nur für eine Kultur der Trauer, auch – und nicht zuletzt – für Erinnerungen und hoffnungsvolle Gedanken. Eigentlich bräuchte ich den November nicht. Gewissermaßen begehe ich ihn in Momenten jeglicher Jahreszeiten. Immer dann, wenn mir ein Mensch in den Sinn kommt, der vielleicht schon 30, 40 Jahre tot ist. Manchen von ihnen bin ich nur selten begegnet. Dennoch erkenne ich sie als Baumeister und -meisterinnen dessen, was ich bin. Sie haben einst etwas gesagt oder getan, das mich aufhorchen ließ. Manches hat mich so beeindruckt, dass ich es mir nie merken musste: Es hat sich in meine Erinnerungen geritzt. Und nicht nur das: Ihr Denken, ihre Äußerungen, ihre Art zu leben haben mich angesteckt. So, dass ich mich an ihrem Wesen noch heute orientiere.
Manchmal denke ich, wie wunderbar es doch wäre, wenn sie mitbekämen, welche Rolle sie nach all der langen Zeit für mich noch immer spielen, wenn sie wüssten, dass sie in mir präsent sind, und dass ich mir einen Teil ihres Seins abgekupfert habe. Ich fühle mich bereichert, wenn mir bewusst wird, wie sehr diese längst verstorbenen Männer und Frauen in mir ihr Leben führen. Und ich empfinde Dank.
Das Wort „Dank“ hat seinen Ursprung übrigens in dem Wort „Denken“. Die Etymologie beschreibt es als das „Denken an eine empfangene Wohltat.“ Ein Grab kann einen bei solcher Denkerei prima unterstützen. Aber nur, wenn man weiß, wo man es findet.