Ich fing an zu brennen

OM-Medien-Kolumne Januar

Am liebsten hätte ich ihm gesagt, er solle sich vom Acker machen. Aber wer sagt das schon zum eigenen Chef. Stattdessen ertrug ich ihn. Direkt hinter mir stehend. Von dort sah er mir über die Schulter, sagte nichts, während ich am Leuchttisch sitzend versuchte, ein Buchcover so zu gestalten, dass er es akzeptieren konnte. Er sagte ewig nichts, bewegte sich nicht. Dieser sonst so dauergestresste Mann schien was genommen zu haben. Plötzlich die Finger seiner linken Hand auf meiner Schulter. Es muss die linke gewesen sein, denn die rechte war ja nur dazu da, das ewig glimmende Licht einer Ernte 23 zu halten. Dann murmelte er etwas, das mir nicht entgehen sollte: „Hätte ich nicht so gut hingekriegt.“ Sechs Wörter, die in mir Feuer legten. Ich fing an zu brennen. Für meinen Job als Layouter, in dem ich vor Jahrzehnten tätig war, und auch für ihn. Nie zuvor hatte ein Lob so viel in mir bewirkt. Warum jetzt? Weil dieser Mann ansonsten mit Lob so sparsam umging wie ein Betrüger mit der Wahrheit. 

Okay, vielleicht ticke ich diesbezüglich ja etwas speziell. Wenn aber stimmt, was ich kürzlich zum Thema las, muss ich mir kaum Sorgen machen. Lob sei so etwas wie ein Hauptnahrungsmittel des Ichs, erfuhr ich da. Und der Schriftsteller Mark Twain brachte es auf seinen ganz persönlichen Punkt, indem er zugab: „Von einem richtig guten Kompliment kann ich zwei Monate leben.“ 

Oliver Dickhäuser, Psychologe an der Uni Mannheim, sagt: „Wir wissen, dass von den Faktoren, die zu Erfolg führen, Lob zu den stärksten gehört.“ Fragt sich nun, wieso das Lob ein so mieses Image hat? Manchmal kommt es mir so vor, als sei der Satz „Nicht gemotzt ist genug gelobt“ einer aus den Zehn Geboten. Zugegeben, so manch lobende Worte wirken in mir wie gammelnde Forelle auf nüchternen Magen. Immer dann, wenn mir einer mit Engelszunge Charmantes einzuhauchen versucht, das nach höllischem Ursprung mieft. Auch dann, wenn Lob und Komplimente wie mit der Gießkanne verteilt werden. Da fällt mir ein Satz von Peter Henningsen, Chefarzt an der Technischen Universität München, ein. Er sagt: „Pauschales Dauerloben ist eine Form der Vernachlässigung durch Verwöhnen.“ Der Mann spricht mir aus der Seele.

Andererseits versuchen unzählige Arbeitnehmer damit klarzukommen, noch nie von ihrem Chef oder ihrer Chefin gelobt worden zu sein. Ihnen fehlt Anerkennung, Wertschätzung und das Gefühl, wahrgenommen zu werden. Klar, dass alle, die eine Chance sehen, so Elementares woanders zu finden, gehen.

Heute, am 21. Januar, kann es passieren, dass man mehr wahrgenommen wird, als man verkraften kann. Heute ist nämlich Weltknuddeltag. Im Ernst. Und der ist keine neumodische Erfindung. Der US-amerikanische Pfarrer Kevin Zaborney hatte 1986 die Idee dazu. Er meinte, in der kalten Zeit zwischen Weihnachten und Valentinstag bräuchte die Menschheit Wärme. Sein Plan war es nicht, einander wahllos liebkosend anzufallen, sondern einander in der Öffentlichkeit achtsam näher zu kommen.

Ich glaube, das brauche ich nicht. Was ich allerdings schlecht lassen kann, ist, zu sagen, wenn mich etwas bei wem auch immer begeistert. Dann bekomme ich nämlich auf der Stelle etwas geschenkt: das freudige Lächeln meines Gegenübers. Wenn’s mir vorher nicht so besonders gut ging, danach garantiert. Ich glaube, die Erleuchtung kam mir diesbezüglich einst am Leuchttisch.

Einfach mal warten

OM-Medien-Kolumne Dezember

Würde mich nicht wundern, wenn die Betreiber von Christbaumkulturen just dabei wären, ihre brancheneigene Hymne zu entdecken. Ich höre schon wie sie singen: „O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie früh sind deine Käufer.“ Eine Umfrage des Portals Statista ergab nämlich nicht nur, dass Menschen in Deutschland ihren Weihnachtsbaum immer früher kaufen. Mehr als die Hälfte stellen ihn auch lange vor Heiligabend in ihrer Wohnung auf: bereits Anfang bis Mitte Dezember.

Von wegen warten aufs Christkind. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich am Nachmittag eines Heiligabends im kleinen Lloyd unserer Nachbarn landete. Mein Vater hatte mich da reingeschoben. Da saß ich neben Maria, Bernhard und Hermann-Josef. Das waren die Kinder von nebenan. Am Steuer saß ihr Vater, den ich dafür bewunderte, wie er als Kriegsversehrter mit seinem Holzbein so prima Gas geben konnte. Wir fuhren nicht weit. Nur bis zum Christkindchenweg in Cloppenburg. Dort stiegen wir aus, liefen durch den angrenzenden Wald und waren uns sicher, irgendwo dort das Christkind zu entdecken. So richtig sehen konnten wir es nicht. Das lag aber nur am Dickicht und an der aufkommenden Dunkelheit. Doch wir fühlten es. Ganz genau. Zurück zu Hause gab es keine Zeit mehr, über dieses mystische Erleben nachzudenken. Ein Glöckchen erklang, und ich war wie geplättet, als ich den funkelnden Tannenbaum im Wohnzimmer erblickte.

Schnee von gestern? Nein, von vorvorgestern. Sentimentaler Schneematsch könnte man sagen. Heute herrschen andere Temperaturen. Die werden von einer Konsumwelt bestimmt, in der das geduldige Abwarten nicht gut ankommt. Kunden sollen nicht warten. Ihre Wünsche sollen auf der Stelle in Erfüllung gehen. Gewissermaßen tun sie das sogar bei Online-Bestellungen, denn da passiert sofort etwas. Auf dem Handy ist genau zu sehen, wie oft wir noch schlafen müssen, bis der Paket-Engel zu uns kommt. Oft nur bis zum nächsten Tag. Per Handy kann man sogar seine Flugroute erkennen und exakt mitverfolgen, wann er vor der eigenen Haustür aufsetzt. Und schon hat man seine Bescherung.

Auch politisches Warten kommt schlecht an. Manche Staatsmänner und -frauen sitzen die brennendsten Themen dennoch ewig lange aus, bevor sie anfangen, sich zu bewegen. Kohl beherrschte das, Merkel lernte es von ihm und Scholz praktiziert es auch. Solche Persönlichkeiten scheint es nicht zu kratzen, wenn Gegner sie

als Zauderer an den Pranger stellen. Das liegt daran, dass sie begriffen haben: Friede auf Erden ist nicht mit einem Mausklick zu ordern, wohl aber mit einer falschen Bewegung zu sprengen.

Beharrliches Warten wird oft mit lethargischer Rumsitzerei verwechselt. Dabei ist das Abwarten und dann die richtigen Fäden zu ziehen, eine Lebenskunst. Dem US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr war das bewusst, als er in den 1940er Jahren schrieb: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Ein großer Wunsch, für dessen Erfüllung wir selbst etwas tun müssen. Der Advent kann uns helfen. Sein Name kommt vom lateinischen Wort Adventus, das Ankunft heißt. Gemeint ist die Ankunft des Kindes, dessen Geburt wir Weihnachten feiern. Indem wir hin und wieder in adventlicher Stille warten, kann etwas Seltenes passieren: dass wir bei uns selbst ankommen.

Im engsten Familienkreis

OM-Medien-Kolumne Oktober

In gewissen Situationen kann man einen recht gewöhnlichen Satz wie eine kalte Dusche empfinden. Zum Beispiel diesen: „Die Beisetzung hat im engsten Familienkreis stattgefunden.“ Meistens kann ich diesen Satz ignorieren. Nicht jedoch, wenn ich beim Zeitunglesen völlig unvorbereitet in einer Todesanzeige auf den Namen eines Menschen stoße, der mir wichtig war. In solchen Momenten wird mir schlagartig klar, dass mir nichts mehr möglich ist. Kein letztes Gespräch, nein, nicht einmal das, was der Volksmund als letzte Ehre am noch offenen Grab bezeichnet. Dass die Anzeige mir nicht verrät, wann die Trauerfeier stattgefunden hat, kann ich dann irgendwie noch schlucken. Aber wenn sie nicht einmal den Beisetzungsort preisgibt, kommt ein flaues Gefühl auf. Warum? Weil es mir wichtig ist, jederzeit die Möglichkeit zu haben, das Grab eines Menschen aufzusuchen, der mir nahestand. 

Mir ist schon klar, dass kaum einer den zitierten Satz mit ausgrenzender Absicht formuliert. Corona hat ihn uns einst diktiert, und wir haben uns weitenteils an ihn gewöhnt. Doch genau das sollten wir nicht tun, jetzt, wo Corona auf Beerdigungen längst nicht mehr so viel zu sagen hat. Natürlich kann man todverachtend über formalisiertes und ritualisiertes Trauern lächeln, aber das Wort von der letzten Ehre war, ist und bleibt ein wertvolles Wort. Denn auch wenn man die Niedergeschlagenheit der Angehörigen nicht teilt, ehrt man so den Verstorbenen und die, die um ihn trauern. Und noch etwas: Neben dem frischen Erdhügel verharrend, stehen Zeit und Leben ein paar Atemzüge lang still. Man taucht für Sekunden in sich selbst ein und spürt die eigene Seele, die ihre Endlichkeit begreift. 

Die nun beginnenden Novembertage stehen kalendarisch nicht nur für eine Kultur der Trauer, auch – und nicht zuletzt – für Erinnerungen und hoffnungsvolle Gedanken. Eigentlich bräuchte ich den November nicht. Gewissermaßen begehe ich ihn in Momenten jeglicher Jahreszeiten. Immer dann, wenn mir ein Mensch in den Sinn kommt, der vielleicht schon 30, 40 Jahre tot ist. Manchen von ihnen bin ich nur selten begegnet. Dennoch erkenne ich sie als Baumeister und -meisterinnen dessen, was ich bin. Sie haben einst etwas gesagt oder getan, das mich aufhorchen ließ. Manches hat mich so beeindruckt, dass ich es mir nie merken musste: Es hat sich in meine Erinnerungen geritzt. Und nicht nur das: Ihr Denken, ihre Äußerungen, ihre Art zu leben haben mich angesteckt. So, dass ich mich an ihrem Wesen noch heute orientiere.

Manchmal denke ich, wie wunderbar es doch wäre, wenn sie mitbekämen, welche Rolle sie nach all der langen Zeit für mich noch immer spielen, wenn sie wüssten, dass sie in mir präsent sind, und dass ich mir einen Teil ihres Seins abgekupfert habe. Ich fühle mich bereichert, wenn mir bewusst wird, wie sehr diese längst verstorbenen Männer und Frauen in mir ihr Leben führen. Und ich empfinde Dank. 

Das Wort „Dank“ hat seinen Ursprung übrigens in dem Wort „Denken“. Die Etymologie beschreibt es als das „Denken an eine empfangene Wohltat.“ Ein Grab kann einen bei solcher Denkerei prima unterstützen. Aber nur, wenn man weiß, wo man es findet.

Er hatte keine Wahl

OM-Medien-Kolumne September

Manche Väter prägen ihre Söhne auf dramatische Weise. Laurence Gonzales hatte so einen. Sein Vater war Kampfpilot bei der US-Airforce. Als er im Januar 1945 einen Angriff auf Düsseldorf flog, wurde er in 8000 Metern Höhe abgeschossen. Seinen Fallschirm bekam er nicht zu packen. Er hatte keine Wahl, konnte nur fallen. Dennoch kam er lebend unten an. Alle möglichen Knochen waren gebrochen, aber nicht das Genick. Das war sein ungeheures Glück. 

Laurence, seinen Sohn, hielt das nicht davon ab, Kunstflieger zu werden. Später wurde er Journalist und Autor. Für seine Bücher „Deep Survival“ und „Flight 232“ erhielt er zahlreiche Preise. Die Katastrophe seines Vaters ging ihm nie aus dem Kopf. Seit Jahrzehnten forscht der 74-Jährige nach Antworten auf die Fragen: Gibt es eine Formel zum Überleben in Notsituationen? Wie trifft man dann die richtige Wahl?  

Im Interview mit Süddeutsche Zeitung sagt er, echten Überlebenskünstlern helfe ihr schwarzer Humor und die Konzentration auf das Schöne im Leben. Ebenso ihre Entscheidung zum Altruismus: „Wenn Sie sich um jemanden kümmern, der schwächer ist als Sie, werden Sie vom Opfer zum Retter.“ Das mache psychologisch einen großen Unterschied. Denn „je mehr man über jemand anderen nachdenkt, desto weniger denkt man über sich selbst und seine Probleme nach.“

Meistens haben wir die Wahl, uns so oder so zu verhalten. Die Wahl zu haben, ist ein Privileg. Das wird erst so richtig bewusst, wenn man, wie Gonzales’ Vater, keine hat. Klar, wer vor einer Entscheidung steht, steht oft auch vor einem Problem: Das kann schon am frühen Morgen aufkreuzen, beim Blick in den Kleiderschrank oder später beim Italiener, wenn sich gleich die komplette Speisekarte als Gaumenstreichler gebärdet. Noch schwieriger wird es vor fundamentalen Entscheidungen: bei der Frage, welchen Beruf ich ergreife, ob und wen ich heirate, ob ich Kinder in diese Welt setze oder wen ich am 9. Oktober in Niedersachsens Landtag wähle.

Klar, Entscheidungen können schwer fallen, vor allem dann, wenn mir nicht klar ist, was ich will. Zum Beispiel weiterhin wie gejagt über die Autobahn heizen oder alles daransetzen, dass der klimakollabierende Erdball nicht abfackelt. 

Diesbezüglich bringt Petra Pinsler in der Zeitung DIE ZEIT zwei schwierige aber merkenswerte Wörter ins Spiel: „kognitive Dissonanz“. Der Begriff kommt aus der Psychologie. Fachleute verwenden ihn, wenn das Verhalten von Menschen nicht zu ihrer Wahrnehmung passt, wenn also eine Dissonanz entsteht. Da wir keine Dissonanzen mögen, blenden wir in komplizierten Lagen gern die Wahrnehmung aus, statt neue Entscheidungen zu treffen und unser Verhalten zu ändern. Wie etwa ein Alkoholiker. Er weiß, dass er sich ruiniert, säuft aber weiter, weil er sich daran erinnert, dass Onkel Josef saufend fast 90 geworden ist.  

Manchmal mag es ja verführerisch sein, sich in Oblomow-Manier morgens gar nicht erst anzuziehen und jede Entscheidung zu verpennen. Aber bin ich dann um eine Wahl herumgekommen? Nein. Der Existentialist Sartre erklärt, wieso. Er sagt: Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt. Damit meint er: Auch wer sich um eine Entscheidung herumdrückt, hat seine Entscheidung bereits gefällt. Nämlich die, nichts zu verändern.

Ganz plötzlich reich

OM-Kolumne August

Wenn ich will, dass Sie meine Kolumne lange im Kopf behalten, sollte ich mir ein anderes Thema suchen. Mein heutiges ist nämlich zu positiv. Denn wir suchen eher negative Infos, und wir verarbeiten sie auch schneller und intensiver als positive. Das ist wissenschaftlich belegt. „Verantwortlich dafür ist unser Steinzeithirn“, sagt die Kölner Professorin für Medienpsychologie Maren Urner. Aus evolutionspsychologischer Sicht sei dies ein Überlebensvorteil. „Denn eine verpasste negative Nachricht hat in Zeiten von Säbelzahntiger und Mammut den Tod bedeuten können.“ 

Dennoch werde ich heute nicht darüber schreiben, dass Hiroshima heute vor 77 Jahren durch eine Atombombe vernichtet wurde. Auch nicht über die beängstigenden Folgen des Klimawandels und auch nicht darüber, dass sich die Taiwan-Frage derzeit zum Großkonflikt der Großmächte USA und China hochschaukelt. Klar, wer nicht tatenlos abwarten will, bis er von einem autokratischen Säbelzahntiger neuzeitlicher Provenienz verschluckt wird, muss informiert sein. Ständiges Stieren auf solche Nachrichten hält allerdings kaum jemand aus. Es macht hilflos, hoffnungslos und depressiv. 

Wie es in dunkelsten Phasen gelingen kann, Licht in jeden Tag zu bringen, hat der britische Autor Duncan MacMillan in seinem Theaterstück „All das Schöne“ gezeigt. Die Zeitung THE GUARDIAN rezensiert: „Ein lebensbejahender Monolog über ein todernstes Thema, herzergreifend und völlig unsentimental.“ MacMillans Protagonistin ist eine Siebenjährige. Sie schreibt eine Liste für ihre depressive Mutter, die versucht hat, sich umzubringen. Auf der steht all das, was das Kind schön findet, und es hofft, dass seine Mutter diese Liste wirklich liest und nicht nur ihre Rechtschreibfehler korrigiert. 1: Eis, 2: Wasserschlachten, 3: Länger aufbleiben dürfen als sonst und fernsehen. Zehn Jahre später unternimmt die Mutter einen zweiten Selbstmordversuch. Das Mädchen wird auch als Jugendliche nicht müde, die Liste weiter zu schreiben. 823: Nacktbaden, 999: Sonnenschein. Die junge Frau geht zum Studium, verliebt sich, doch tief in ihr sitzt eine Traurigkeit, die sie sich nicht eingestehen mag. Mit dem Leben wächst die Liste, nähert sich der millionsten Eintragung. 999 997: Das Alphabet. 999 998: Eine Aufgabe abschließen. 

Duncan MacMillans Text ist ein rauschendes Plädoyer für das, was uns Mut macht. Er lässt uns sehen, wofür es sich lohnt, jeden Tag aufzustehen. Er verführt uns, die Kleinigkeiten im Leben anzuschauen und uns daran zu erfreuen, um nicht an den großen Problemen zu verzweifeln.

Was Freude bringt, kann nur jeder Mensch für sich herausfinden. Wer dabei ständig nach Großartigem sucht, muss damit rechnen, das Eigentliche zu übersehen. In der Wochenzeitung DIE ZEIT berichten Leserinnen und Leser in wenigen Zeilen über ihre Kleinigkeiten. Zum Beispiel eine Frau, die Urlaub in England gemacht hat: Nach ihrer abendlichen Laufrunde kam sie rotgesichtig und erschöpft ins Dorf zurück. Ein alter Mann im Rollstuhl lächelte ihr entgegen. Während sie an ihm vorbeihechelte, hörte sie ihn fragen: „Brauchen Sie eine Mitfahrgelegenheit?“ 

Warum sie uns das erzählt? Weil es ihr Leben ganz plötzlich reicher gemacht hat.

Ich erschrecke vor mir selbst

OM-Kolumne zum April

Ich muss feststellen, dass ich einem Menschen den Tod wünsche. Das erschrickt mich. Dabei weiß ich, dass aktuell selbst solche so denken, von denen man es auf Anhieb nicht glauben würde. Zum Beispiel Detlef Pollack, er ist Religionssoziologe an der Uni Münster. Bezogen auf Wladimir Putin sagt er in der ZEIT: „Manchmal packt mich eine solche Wut, dass ich denke, man müsste diesem Verbrecher antun, was er anderen antut.“

Die Tatsache, dass ein Theologe und honoriger Professor das sagt, beruhigt mich kaum spürbar. Ich kann nämlich nicht übersehen, was die Ursache meiner finstren Gedanken ist: Hass. Zugegeben, es kann sich gut anfühlen, Hass raus zu lassen, aber nur Momente lang. Auf längere Sicht ist Hass nichts anderes als die metastasierende Version von Wut, und die frisst uns Menschen auf.

Ich stelle fest, mindestens einmal pro Woche eine Stunde lang komplett frei von Kriegs- und Hassgedanken zu sein. Dann, wenn ich mit dem Stapelfelder Parforce-Ensemble Musik mache. Musizierend schaffen wir es, die Detonationen der Seele sogar im Pianissimo zu übertönen. Solcher Ausgleich ist wertvoll, denn wer jede Kriegsnachricht verfolgt, führt Krieg gegen seinen Seelenfrieden.

Es fällt auf, dass dieser Krieg selbst die betroffen macht, die er nicht konkret betrifft. Klar, Kriege auf dem Balkan, in Syrien, Afghanistan oder im Irak berühren uns, aber Putins aktuelles Morden macht uns betroffen. Warum das so ist, kapierte ich während einer Friedensdemo auf dem Cloppenburger Marktplatz. Dechant Bernd Strickmann fragte die Versammelten durchs Mikro, wem die Zahl 1758 etwas sage. Massenhaft stilles Schulterzucken. Dann noch eine Zahl: 1930. Auch mit der konnte keiner etwas anfangen. Strickmanns Lösung: Bis Mallorca sind es 1930 Kilometer, bis Kiew nur 1758.

Nahes Gemetzel gebiert Angst und Hilflosigkeit. Darum treffen sich überall Menschen zu Friedensgebeten. In einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft drängt sich die Frage auf, ob das nicht Unfug ist. Ich halte das weder für Unfug noch für sentimental. Johanna Haberer auch nicht. Sie ist Theologin. In ihrem Buch „Die Seele“ schreibt sie über die Sehnsucht nach Seelengemeinschaft. Für sie sind solche Gebete und auch die Ekstase bei Rockkonzerten oder wenn Tausende „Dona nobis pacem“ singen, „Instrumente, um andere Seelen zu erreichen und unser einsames Ich mit ihnen zu verbinden.“ Solches Verbundensein brauchen wir, wenn alles, was uns wertvoll ist, auseinanderzufliegen droht. 

Aktuell fragen sich viele, ob wir blind und naiv waren. Ob wir uns nicht gegen Putins Mörderpolitik hätten wehren müssen, statt uns für die Schaffung von Gendersternchen oder für die Anerkennung von Transgender-Identitäten abzustrampeln und uns gegen soziale Ungleichheit zu wehren. Wir waren nicht naiv. Wir waren und sind uns unserer Werte bewusst. Die gebieten es uns sogar, Sorge für die Kinder unserer Soldatinnen und Soldaten zu tragen. Das unterscheidet sich von Putins Denken. Für ihn sind Menschen strategisches Mengenverbrauchsgut. Soldaten, die er für seine diabolischen Ideale kämpfen lässt, allemal.

Über Leichen schlendern

OM-Kolumne zum Februar

Schon vor Jahren habe ich mein Auto aufgefordert, mich täglich an etwas zu erinnern. Und es pariert. Ich brauche nur aufs Kennzeichen zu schauen, und schon sagt es mir, was ich oft vergesse. Dort stehen nach dem Ortskürzel die Buchstaben „CD“ für Carpe Diem (nutze den Tag). Nicht dass ich ohne diesen Hinweis untätig wäre, aber ich würde mich zu oft auf sinnlose Weise belasten und mir so den Tag versauen.

Inwiefern? Indem ich mich aufrege. Mal übers Wetter, oft über mich und beispielsweise immer wieder über AfD-Anhänger, die montagsabends durch die Innenstädte des Oldenburger Münsterlandes spazieren. Manchmal habe ich das Gefühl, sie könnten über Leichen gehen. Vor allem dann, wenn sie mit Hass auf der Zunge sogar über Stolpersteine schlendern, mit denen Menschen eines Rechtsstaates an die erinnern, die das Hassregime von einst vernichtet hat. 

Aufregung und schimpfende Revanche helfen nie weiter. Beide fressen Lebensenergie. Und nicht nur das. Wer sich am Schlechten festbeißt, hält sich auf Dauer die besten Menschen vom Leib. Man wird einsam. Denn wer will schon ständig hören, was fürchterlich ist und was Katastrophales droht! Klar, Menschen, die gern über Staat und Welt herziehen, rotten sich gern zusammen. Aber sie harmonieren auf Dauer nicht, weil sie die Tendenz haben, auch übereinander schlecht zu reden. 

Wenn ich jeden Tag aufs Beste nutzen will, brauche ich Gelassenheit. Vor allem dann, wenn die Welt aus den Fugen gerät. Bei diesem Stichwort fällt mir die Queen ein. Sie ist in meinen Augen die Königin der Gelassenheit. Ich denke auch an Ex-Kanzlerin Angela Merkel, die selbst in größter Turbulenz gelassen blieb. Doch wie geht das? Über Altkanzler Helmut Schmidt weiß man, dass er sich Gelassenheit zeitlebens vom römischen Kaiser und Philosophen Marc Aurel abguckte. Diesen alten Stoiker fand er schon als Junge faszinierend. Sein Denken half ihm als Staatsmann, massive Krisen zu bewältigen und schnell schwere Entscheidungen zu treffen. 

Aber was denkt so ein Stoiker? Kurz gesagt, dass Gelassenheit in der Konzentration auf das Wesentliche entsteht. Wer so denkt, nimmt das Leben ernst, aber nicht schwer. Das heißt nicht, dass die Stoiker Positiv-Denker waren. Sie blickten ganz genau auf das Schlechte und Verlogene. Ebenso wenig waren sie Schwarzmaler. Sie ließen sich jedoch nicht von dunklen Emotionen treiben und jammerten nicht. Stattdessen akzeptierten sie, was unabänderlich war. Und sie führten sich vor Augen, was Schlimmeres hätte passieren können. So empfanden sie nicht nur Freude über ihr Schicksal, aus ihrer Freude schöpften sie Kraft.

Wer in aufgebrachter Zeit Gelassenheit zeigt, fasziniert. So jemand wirkt stark und auch anziehend. Wenn ich’s recht überlege, mag ich schon allein das Wort Gelassenheit. Der Theologe und Philosoph Meister Eckhart soll es um 1300 in seinen Predigten geprägt haben. Ich mag es, weil in ihm das Aktive und das Passive steckt: Ich kann etwas lassen, und ich kann gelassen werden.

Sprachlos

Januar-Kolumne in OM-Medien

Noch nie habe ich so oft an ihn gedacht, wie in dieser pandemischen Zeit: an meinen alten Kollegen Ewald. Zu ihm habe ich einst aufgeschaut. Und das nicht nur wegen seines Wissens und seines Talents, mit dem er sich als Journalist unter die Haut seiner Leserschaft schrieb. Sein Blick aufs Leben faszinierte mich. Insbesondere der auf sein ganz eigenes und angeschlagenes. Der Parkinson hatte ihn mehrmals täglich komplett im Griff. In solchen Phasen zitterten seine Arme nicht nur, sie ruckten ins Leere, als würden unsichtbare Hände an ihnen reißen. Da auch Brustkorb und Kopf  wie mitgerissen agierten, geriet seine Aussprache völlig aus der Kontrolle. Oft konnte ich ihn nicht verstehen. Alle paar Wochen fuhr er in die Uniklinik Bochum. Gern stellte er sich seinem Professor als Versuchskaninchen zur Verfügung. Wenn es ihm persönlich auch nicht helfen würde, so seine Meinung, helfe es womöglich dem forschenden Arzt und dessen Studenten. Und vielleicht gebe es ja doch noch eine Linderung. Von dieser Hoffnung ließ er nie los. Wenn ich ihn fragte, wie es war, in der Klinik, sagte er: „Gut.“ „Inwiefern?“, wollte ich wissen. „Tja, wenn ich da so manch jüngere Patienten sehe, kapiere ich, dass ich keinen Grund zum Klagen habe.“ 

Diese Haltung machte mich sprachlos. Immer wieder. Manchmal hatte ich aber auch einen anderen Grund, nichts zu sagen. Das war in meiner journalistischen Anfangsphase. Wenn ich wieder mal glaubte, den Beruf verfehlt zu haben, brütete ich hinter verschlossener Tür überm weißen Manuskriptpapier. Ewald ließ mich nicht brüten. Er kam einfach rein, setzte sich neben mich und zwang mich mit durchschauendem Lächeln, die Zähne auseinanderzukriegen. Ich verriet ihm, was los war, mir blieb nichts anderes übrig. Er sagte dann nicht viel. Nur dies: „Ich sehe das ganz anders.“ Und damit gab er mir Hoffnung selbst in seinen zuckendsten Elendsphasen.

Noch einer, der in beeindruckender Weise die Hoffnung nie aufgab, war Stephen Hawking. Heute, am 8. Januar, wäre er 80 Jahre alt geworden. Mit 21 Jahren erfuhr er, dass er an einer unheilbaren Nervenkrankheit litt. Die Ärzte gaben ihm nur wenige Jahre Lebenszeit. Doch er wurde 76 Jahre alt und starb als einer der bedeutendsten Wissenschaftler aller Zeiten, der nie von seinen mathematischen und physikalischen Studien abließ. Er war davon überzeugt, dass man erst verloren ist, wenn man sich selbst aufgibt und sagte: „Wo Leben ist, ist Hoffnung, und wo Hoffnung ist, kann neues Leben entstehen.“

Beide, Stephen Hawking und auch mein Kollege, kannten dunkelste Phasen. Mit dem Wissenschaftler habe ich mich nie unterhalten, mit meinem Kollegen umso mehr. Manchmal frage ich mich, wie er zu so manch dunklen pandemischen Momenten stehen würde. Fragen kann ich ihn nicht, denn auch er ist vor ein paar Jahren gestorben, aber ich kann mir vorstellen, dass er sagen würde: In solch finsteren Phasen stecken Möglichkeiten, die es unter strahlendem Himmel gar nicht zu geben scheint. Und ich habe schon manchmal den Eindruck gehabt, dass solche Dunkelheit nur eine andere Art Licht ist. Eine, die uns gefehlt hat.

Das will doch keiner lesen

Meine November-Kolumne für OM-Medien.

Fast kommt es mir so vor, als würde ich mit dem Schreiben meiner heutigen Kolumne einen Tabubruch begehen. Aber der November wird mir beistehen. Gewissermaßen haben wir ihn ja zu einem Themen-Knast gemacht, in den wir so ziemlich alle Gedanken inhaftieren, die uns besondere Angst bereiten können: Tabu-Themen wie Tod, Sterben und jeden auch nur ansatzweise morbid riechenden Gedanken. Alle Herbste wieder geben wir diesen Themen zu Allerheiligen, Allerseelen, Totensonntag und zum Volkstrauertag ritualisiert Freigang und hoffen, dass sie spätestens zum Advent alle wieder in ihrer Zelle sind. Aber wir können nicht davon ausgehen, dass sie dort bleiben. Finsterste Gedanken brechen zuweilen aus. Zum Beispiel dann, wenn uns jemand mitteilt, dass er todkrank ist, oder wenn ein Mensch aus unserem engeren Umfeld gerade gestorben ist. 

Heutzutage sind wir vor diesen Themen so sicher wie nie zuvor. So richtig spürbar wuchs diese Sicherheit 

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Mein Oktober-Geständnis

Es waren die Redaktionen von „Münsterländische Tageszeitung“, „Oldenburgische Volkszeitung“ und „OM-Medien“, die mich baten, alle paar Wochen für sie eine Kolumne zu schreiben. Hier mein Oktober-Geständnis. War mir wieder einmal ein Vergnügen.

Zugegeben, auch ich tue es. Immer wieder. Heute ist es mir (glaube ich) noch nicht passiert, aber gestern. Da fragte mich die Tochter eines Freundes, wie ich ihre neue Frisur fände. Wäre ich ganz spontan ehrlich gewesen, hätte ich gesagt: „Entsetzlich.“ Schließlich hatte ich Vivi im ersten Augenblick überhaupt nicht erkannt. Von ihrer bisherigen Haarpracht war ja lediglich der Charme einer Auslegeware geblieben. Fehlte nur das Etikett mit der Aufschrift: „1 Millimeter, rutschfest, pflegeleicht.“ Während ich in ihren nach wie vor anmutigen Gesichtszügen hilflos nach einer salonfähigen Antwort suchte, fiel mir eine ein: „Joaaaa, steht dir.“ „Mein Oktober-Geständnis“ weiterlesen