OM-Medien-Kolumne zum 19. August
Oft ist es ja durchaus von Vorteil, ein Gewohnheitstier zu sein. Als solches steckt man nicht nur körperliche Schmerzen besser weg, auch die täglichen Krisen- und Kriegsnachrichten. Sie detonieren nicht mehr in der Seele, sondern verpuffen wie Knallplättchen weit vor dem Gehörgang. Schade nur, dass das Gewohnheitstier mit einem Dilemma leben muss: Es gewöhnt sich auch an das Schönste und Wertvollste. Sogar so sehr, dass es seine besonderen Privilegien nicht mehr sieht. Zugegeben, auch ich bin viel zu oft ein blindes Huhn. Dennoch finde ich immer mal wieder ein Korn. Vor über 40 Jahren sogar eines, das mir vor allem in aktuellen Krisensituationen ausgezeichnet schmeckt.
Damals war ich mit meinem ersten Auto, einem alten Mini Cooper, unterwegs nach Valencia. Nach 200 Kilometern wurde mir mulmig, denn der Kleine schluckte Öl wie eine Kettensäge. Beim Zwischenstopp in Köln teilte ich meinem älteren Bruder mein Unbehagen mit. Sofort hatte er die Lösung: mein Auto stehen lassen, seines mitnehmen. Dem konnte ich nicht widerstehen. In meinen Augen war diese Karosse nämlich das automobile Himmelreich schlechthin: eine langschnäuzige Eleganz mit 12 Zylindern unter der Haube. Drei ganze Wochen fühlte ich mich damit wie der König von Deutschland und Spanien zugleich. Doch dann, auf der Rückfahrt, passierte es. Ich vermisste etwas: die Faszination, mit der ich Wochen zuvor in dieses Traumauto gestiegen war. Ich hatte mich daran gewöhnt.
So, wie ich einst auf meinen automobilen Traum geblickt habe, blicken große Teile der Welt auf Deutschland. Sie sehen nicht nur unseren wirtschaftlichen Erfolg, sie beneiden uns um unsere Demokratie. Doch an deren Vorzüge scheint man sich hierzulande dermaßen gewöhnt zu haben, dass weite Teile der Gesellschaft sie komplett aus den Augen verloren haben. Und nicht nur das: Allerorts schießen Systemverächter wie Unkraut aus dem Boden. Sie legen es darauf an, die freiheitliche Gesellschaftsordnung Deutschlands mit autoritärem Nationalismus zu überwuchern. Der AfD gelingt das in erschreckendem Maße. Sie spricht all jenen Menschen mit simplen Parolen aus der Seele, die gewohnheitstierisch schon viel zu lange aus dem Blick verloren haben, was Demokratie ihnen gibt. Selbst wenn AfD-Leute behaupten, die Meinungsfreiheit sei nicht gewährleistet, stimmt man ihnen lauthals zu. Am liebsten möchten sie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk an die Leine legen, damit er ein „ausgewogenes Programm“ liefert. Aber das würde bedeuten, dass AfD-Politiker ihre Positionen noch erfolgreicher streuen.
Wer dem zustimmt, ignoriert, mit welchem Ziel öffentlich-rechtliche Sender nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden: nämlich zur Verteidigung der Demokratie. Zu ihrem Job gehört es, antidemokratische Kräfte unter die Lupe zu nehmen und öffentlich zu kritisieren. Denn wenn Rechtsextremisten erst einmal in Machtpositionen hineingewählt worden sind, werden sie die Möglichkeiten der Demokratie nutzen, um sie zu beschädigen.
Zurzeit belegen Umfragen noch, dass eine Mehrheit die Demokratie will. Aber das ist nicht beruhigend. Wer die Demokratie will, muss auch für sie kämpfen. Wer das nicht will, gibt dem Kürzel „AfD“ eine neue Bedeutung: „Aus für Deutschland“.