Ich entdeckte ihn in der Fußgängerzone. Schon von Weitem war ihm anzusehen, dass etwas nicht stimmte. Oft bewunderte ich den alten Herrn wegen seines schlagfertigen Humors. Auch wegen seiner Augen, die so charmefunkelnd erzählen konnten. Aber an diesem Vormittag sahen sie aus, als hätten sie das Leben noch nie blühen sehen. Dann entdeckte er mich in der Menge. Im Nu kam ihm ein Lächeln, aber kein ansteckendes. Es wirkte geborgt. Als ich ihn fragte, wie es ihm gehe, schaute er zur Seite. Er wusste genau, dass meine Frage keinen Smalltalk startete. Er brauchte drei, vier Sekunden, dann sah er mich an. Nur kurz, aber das feuchte Schimmern seiner Augen war nicht zu übersehen. Dann seine Antwort: „Man fühlt sich halt allein.“
Mir war klar, was er meinte, denn nach dem Tod seiner Frau haben wir uns oft darüber unterhalten. Es ist die Art seiner Formulierung, die mich berührte. Seine Aussage hatte es nämlich in sich. Mir kam es so vor, als habe dieser liebenswerte Typ es vorgezogen, sich persönlich möglichst außen vor zu lassen. Denn er sagte mir nicht, wie er sich fühlte, sondern wie man sich fühlt. Das Wort „Ich“ wäre wohl zu schmerzhaft geworden.
Dabei ist das Alleinsein kein Gefühl, es ist ein objektiver Zustand. Wenn ich mich ohne einen anderen Menschen in einem Zimmer befinde, bin ich allein. Das kann wohltuend sein. Einsamkeit hingegen ist ein subjektives Gefühl. Das kann einem im Konzertsaal ebenso heftig zu schaffen machen wie auf einer Party. Und zutiefst auch in einer Partnerschaft.
Dr. Caroline Bohn beschäftigt sich als Soziologin in Witten-Herbede wissenschaftlich mit diesem Thema. In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ sagte sie, wer einsam sei, schäme sich oft dafür. So jemand habe schnell das Gefühl, nicht richtig zu sein, nicht zu genügen, nicht der gesellschaftlichen Norm zu entsprechen. Und wer sich schäme, werde einsam, „weil Scham das größte Tabuthema überhaupt ist.“ Selbst vertrautesten Menschen könne so jemand nicht von seinen Schamgefühlen erzählen.
Das ist ein Dilemma. Einsamkeit kann ebenso Scham erzeugen wie der erste Weg durch die Stadt im Rollstuhl, wie die schiefe Bahn des eigenen Sohnes oder die Enkelkinder, die man ersehnt aber nicht bekommt. Darauf will kaum jemand angesprochen werden. Das erzeugt Peinlichkeit, und sie drückt den Schmerz, die Pein aus, die mit der Scham einhergeht.
Scham ist immer Stress. In solchen Momenten schüttet der Körper das Hormon Cortisol aus, die Blutgefäße weiten sich, die Hände werden feucht, das Gesicht wird rot. Wer Scham empfindet, sieht sich entblößt. Er blickt auf seinen Makel und glaubt, die Öffentlichkeit stiere erbarmungslos genau auf diesen Bereich. Und je größer die Zahl der Zeugen der Scham, desto immenser das Schamgefühl. Es gibt dann nur noch einen Wunsch: im Erdboden zu versinken, dort, wo einen niemand sieht.
Nicht zuletzt in Sozialen Medien entsteht häufig der Eindruck, viele Menschen hätten sich ihr Schamgefühl abtrainiert. Aber sie sind nicht zu beneiden, denn sie sind unverschämt. Ihnen fehlt der Seismograf, der ihnen sensibel anzeigt, wann das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung, Respekt und Zugehörigkeit ignoriert wird.