Ich hatte ihr keine Chance gegeben

Gastkolumne in OM-Medien, Münsterländische Tageszeitung und Oldenburgische Volkszeitung am 13. September.

Jahrelang hatten wir alle paar Wochen miteinander telefoniert. Nicht nur, weil sie denselben Beruf hatte wie ich. Wir hatten vor allem gemeinsame Themen. Irgendwann rief ich sie nicht mehr an und ging nicht mehr ans Handy, wenn der Name „Anne“ (Name geändert) im Display aufleuchtete. Zu oft hatte ich Mühe gehabt, sie zu verstehen. Ihre Zunge hatte wie ein mit Alkohol getränkter Schwamm geklungen. Lallend erzählte sie mir von ihren Redaktionskonferenzen bei der „Zeit“ und davon, was sie an Giovanni di Lorenzo als Chef so begeisterte. Wichtigtuerei? Passte nicht zu ihr. Vieles glaubte ich ihr, manches nicht so recht. Es war ihre schlingernde Aussprache, die mich zweifeln ließ. Auch daran, dass ihr Arzt angeblich einen „komischen Befund“ im Kopf festgestellt hatte. Dann die Nachricht, dass sie gestorben war. Sie hatte einen Hirntumor gehabt. Der hatte ihrer Aussprache zugesetzt.

Während unserer Gespräche hatte ich mein Vorurteil flott über sie gefällt. Gewissermaßen hatte ich es sogar ausgesprochen, indem ich mit Schärfe im Ton gefordert hatte: „Bitte deutlicher. Ich verstehe nichts.“  

Menschen kurzerhand zu bewerten, passiert beileibe nicht nur mir. Wir alle neigen dazu, anderen im Handumdrehen einen Stempel aufzudrücken. Natürlich können wir gegen den ersten Eindruck nichts machen. Der ist einfach da. Oft ist er uns ein gutes Signal. Wenn wir jemanden als Kotzbrocken empfinden, gibt uns das den Impuls, ihm nicht zu nahe zu kommen. Aber es ist nicht gut, aus dem ersten Eindruck ein Urteil zu fällen. Dann gebenwir so einer widerlich wirkenden Gestalt keine Chance. Was vielfach schade wäre, denn so mancher Herr und so manche Frau Merkwürden entpuppen sich bei aufmerksamer Betrachtung völlig anders. 

Uns allen fällt natürlich sofort eine prima Entschuldigung für unsere Urteilsgier ein. Schließlich haben wir es im Laufe des Lebens ordentlich trainiert, ständige Bewertungen und Beurteilungen auszuhalten. Wir alle kennen dieses System bereits seit unserer Kindheit: Schüler werden benotet. Eigentlich beziehen Schulzensuren sich zwar nur auf Leistungen, aber oft beziehen wir sie auf den ganzen Menschen.

Selbstverständlich nehmen wir nicht nur den Wert anderer kritisch unter die Lupe. Klammheimlich sehen wir auch auf die schrägen Typen, die in uns selbst stecken: die Neider, die Angeber, die Unsicheren, die Choleriker, die Ängstlichen, die überflotten Verurteiler … Wir können solche Typen in uns nicht ausstehen. Darum möchten wir sie wegsperren, irgendwo in der finstersten Zelle unserer Seele. Aber ich glaube nicht, dass wir sie so loswerden. Eingekerkert verschwinden sie nicht. Tief in uns machen sie permanent Randale.

Vielleicht sollten wir uns schlichtweg gestehen, dass wir die eine oder andere dieser miesen Eigenschaften haben. Schließlich kann keiner für seine schrägen Gedanken und Gefühle verantwortlich sein. Sie kommen einfach. Aber wir sind verantwortlich dafür, wie wir mit ihnen umgehen. Sie wegzuschieben hilft nicht, denn weit Weggeschobenes ist nicht greifbar. Und sich selbst, eine scheinbar besoffene Anne oder gar die ganze missratene Welt kompromisslos in die Tonne zu hauen, führt auch nicht weiter. Nur die Denk- und Verhaltensweisen, die wir akzeptierend in den Blick nehmen, lassen sich bearbeiten und verändern. Das macht uns nicht zu Hochglanzmenschen, aber zu solchen, die einer verbeulten Gesellschaft Form und Glanz verleihen. Nur so kann ein einigermaßen glückliches Leben funktionieren. 

Uns ergeht es da übrigens nicht anders als der Demokratie: Sie lebt von solchen Kompromissen, von Veränderungen, dem Aushalten von Gegensätzen und immer wieder von Versöhnung.

Wir sollten es wagen

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Gastkolumne in OM-Medien, Münsterländische Tageszeitung und Oldenburgische Volkszeitung am 9. August

Passiert es Ihnen hin und wieder, dass Sie Ihren Partner oder Ihre Partnerin gehörig zusammenfalten? So, wie man das mit der besseren Hälfte nicht einmal machen sollte, wenn sie sich von ihrer schlechtesten Seite gezeigt hat? Dann machen Sie sich keine Gedanken! Höchstwahrscheinlich können Sie nämlich nichts dafür. Jedenfalls nicht wirklich. Das ziehe ich als Fazit aus einem Buch, das in den letzten zehn Jahren mehr als unglaubliche 3,2 Millionen Mal verkauft wurde. Darin geht es oft (und öfter) um Michael und Sabine. Sie kommt vom Einkaufen zurück, hat seine Lieblingswurst vergessen, und er reagiert mit einem Wutausbruch. 

Was hat diesen Mann geritten? Stefanie Stahl ist Psychologin und Autorin des erwähnten Buches mit dem Titel „Das innere Kind in dir muss Heimat finden“. Sie meint, Michael wisse nicht, dass der Grund für seine enorme Wut gar nicht Sabines Vergesslichkeit ist, sondern dass seine Mutter seine Wünsche als Kind nicht ernstgenommen hat. Weil ihm der Zusammenhang zwischen seiner Reaktion auf Sabine und den Erfahrungen mit seiner Mutter nicht bewusst sei, könne er „nur wenig Einfluss auf seine Gefühle und sein Verhalten nehmen.“ Alles hänge mit dem „inneren Kind“ zusammen, sagt die Autorin. Das sei auch der Fall, „wenn ein Staatsmann die Grenzverletzungen eines anderen Staatsmannes mit militärischem Angriff beantwortet.“

Leider gibt es unzählige Menschen, die in ihrer Kindheit dermaßen verletzt worden sind, dass es ihnen kaum möglich ist, ihr Leben verantwortungsvoll und lebenswert zu gestalten. Aber bei der Vorstellung, dass derart Geschundene versuchen, sich anhand ihres „inneren Kindes“ selbst zu therapieren, wird mir angst und bange. 

Es wundert mich allerdings nicht, dass dieses Buch einen regelrechten Hype entfacht hat. Denn es fühlt sich durchaus verführerisch behaglich an, wenn ich lese, dass der Grund für mein beklopptes oder niederträchtiges Verhalten so gut wie immer in meiner vermasselten Kindheit zu finden ist. Die liegt glücklicherweise so tief in mir vergraben, dass ich sie tunlichst lasse, wo sie ist. Auf diese Weise muss ich nicht nach Lösungen suchen und kann jede lästige Eigenverantwortung begraben. 

Falls nun jemand argwöhnt, ich hegte Ressentiments gegen die Psychologie und die Vertreter dieser Zunft: ganz und gar nicht. Stattdessen bedaure ich, dass vor allem viele problembelastete Männer eher geneigt sind, nach einem Strick zu greifen, als ihren Finger auf den Klingelknopf eines erfahrenen Psychologen zu drücken. 

Aber wenn jedem Schurken mit Blick auf sein zu kurz gekommenes „inneres Kind“ die Absolution erteilt wird, haben wir bald eine infantile Gesellschaft, eine, die nicht erwachsen geworden ist und keine Notwendigkeit sieht, es zu werden.

Solchen Menschen begegne ich schon allzu oft. Für alles, was sie in ihrem Leben nicht auf die Reihe bekommen haben, machen sie ihre Eltern verantwortlich. Auf diese Weise umgehen sie jeden Kampf. Klar, bei solchen Kämpfen kann man verletzt werden. Das macht Angst. Aber dennoch: Wir sollten es wagen, unser äußeres, das große Kind in uns kritisch ins Visier zu nehmen. Immer wieder. Das kann verwunden und auch eine Narbe hinterlassen. Aber diese Narbe ist dann kein Makel. Sie ist ein Gütesiegel selbst erarbeiteter Mündigkeit. Und mit dem kann man sich gut sehen lassen. Auch und nicht zuletzt im Spiegel. 

Der Allmächtige schwächelt?

Gastkolumne in OM-Medien, Münsterländische Tageszeitung und Oldenburgische Volkszeitung am 5. Juli

Kann doch gar nicht sein. Das war lange Zeit mein Gedanke, nachdem man mir als Kind von der göttlichen Großbaustelle namens Welt erzählt hatte. Okay, der einstige Bauleiter hat sein Projekt ohne Durchhänger binnen sechs Tagen durchgezogen. Das ist im Schöpfungsbericht der Bibel nachzulesen. Aber dass einer, der über Allmacht verfügt, am siebten Tag eine Auszeit braucht, ging mir nicht in den Kopf. Das passt da auch heute noch nicht rein. Einer, der alles kann, muss doch auch pausenlos weitermachen können. 

Mir ist schon klar, was ich da schreibe, mag ketzerisch anmuten, aber mittlerweile habe ich etwas Schönes begriffen: So einer ruht sich nicht aus, weil er befürchtet, dass sonst nichts mehr gehen würde. Der macht das einfach, weil er es will. So findet er Zeit, durchzuatmen und wertschätzend auf das zu blicken, was er bereits erschaffen hat. Und da er auch uns gemacht hat, heißt das, dass auch wir etwas von diesen wertschätzenden Blicken abbekommen.

Häufig tun wir Heutigen so, als wäre die Pause ein göttliches Privileg, das Pimpfen wie uns nicht zustünde. Pausen – im Sinne von Nichtstun – scheinen in digitalen Zeiten vom Aussterben bedroht zu sein. Selbst im Urlaub sind sie rar geworden. Wir lesen Mails, während wir kauen, chatten, während wir netflixen, verteilen Likes, während wir einen Podcast hören, und wenn uns jemand eine Nachricht aufs Display schickt, finden wir es normal, innerhalb von Minuten darauf zu antworten.

Bereits vor über 70 Jahren gab es einen Mann, der sich so sehr um die Pause sorgte, dass er ein wahrlich revolutionäres Konzert inszenierte. Es war der amerikanische Komponist John Cage. Am 29. August 1952 fand in der Maverick Concert Hall in Woodstock die Uraufführung statt. Das Stück besteht aus drei Sätzen, die insgesamt 4 Minuten und 33 Sekunden dauern. Daher sein Titel: „4´33“. Als der Pianist die Bühne betrat und sich an den schwarzen Flügel setzte, deutete noch alles auf einen ganz normalen Konzertabend hin. Doch als er sein Notenwerk vor sich aufgestellt hatte, wurde es merkwürdig. Statt in die Tasten griff er zur Stoppuhr, drückte auf Start, schaute 4 Minuten und 33 Sekunden lang aufs Zifferblatt, drückte dann auf Stopp, klappte den Klavierdeckel zu, verneigte sich und zog von dannen. Zu hören gab es keine konventionellen musikalischen Klänge, nur das Rascheln, Scharren und Räuspern der Konzertgäste. Auf diese Weise hatte John Cage der Pause demonstrativ einen Wert geschenkt.

Wir sollten darauf achten, dass wir nicht nur die Akkus unserer Handys aufladen, sondern auch uns selbst. Jetzt, in der Urlaubszeit, kann es klappen, hin und wieder Pausen zu machen, in denen wir wirklich mal nichts tun. Denn genau betrachtet, ist die Pause nicht nichts. In ihr kann viel geschehen: Die gehetzte Atmung kann sich beruhigen, der hohe Pulsschlag sinken und die angespannten Netzwerke im Gehirn können sich erholen. Und das Schöne ist: Im Urlaub müssen wir dazu nicht um Erlaubnis fragen. Denn das Wort „Urlaub“ hat seinen Ursprung im althochdeutschen Wort „Urloub“, und das bedeutet „Erlaubnis“. Früher ging es um die Erlaubnis, sich von einer Burg oder vom Militärdienst zu entfernen. Heute um die Erlaubnis, endlich mal wieder zu uns zu kommen.

Wenn mein Traum zu Taten treibt

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Gastkolumne in OM-Medien, Münsterländische Tageszeitung, Oldenburgische Volkszeitung am 31. Mai.

Ich habe einen Wunsch, einen, der mir immer heftiger unter den Nägeln brennt. Manchmal träume ich sogar von ihm und glaube beim Weckerklingeln doch tatsächlich, er sei in Erfüllung gegangen. Dies jedoch allenfalls eine Sekunde lang. In der Erfüllung dieses Wunsches werden die Staaten dieser Erde – quasi über Nacht – nur noch von weisen Präsidentinnen und Präsidenten regiert. 

Aber was ist das eigentlich, Weisheit? Orientiere ich mich an Märchen und Mythen, ist Weisheit eindeutig ein Privileg des Alters. Alte Präsidenten fallen mir so einige ein. Doch sie sind keine Märchengestalten, die bereits üppige Portionen Weisheit löffeln, während alle andere Figuren noch nach dem Besteck suchend durch die Märchenwälder stolpern. Diese alten Männer haben nicht das Zeug, besonnen Streit zu schlichten, sie führen ihn herbei. Und wer ihnen kontert, dem kommen sie mit Kanonen. Meine ernüchternde Erkenntnis: Alter wird nicht vollautomatisch mit Weisheit ausgestattet. 

Doch jetzt die gute Nachricht. Und die kommt nicht von einer Märchenprinzessin sondern von Judith Glück. Die geborene Münchnerin ist Weisheitsforscherin und Professorin der Psychologie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. In ihrem Buch „Weisheit“ geht sie der Frage nach, was diese Eigenschaft eigentlich bedeutet. Fällt sie Menschen zu wie eine Gabe, oder beruht sie auf Fähigkeiten, die sich erlernen lassen? 

Im Ergebnis jahrzehntelanger Forschungsarbeit erkennt Judith Glück fünf Eigenschaften, über die weise Menschen verfügen: Sie zeigen sich offen für neue Perspektiven, sie haben Einfühlungsvermögen, verhalten sich reflektiert, gehen klug mit eigenen Gefühlen um und haben Selbstvertrauen.

Das sind nicht per se präsidiale Eigenschaften. Auch sind sie nicht mit dem Zepter in der Hand herbeizuzaubern. Sie werden auch niemandem einfach in die Wiege gelegt. Aber jeder Mensch kann mit seinen Lebenserfahrungen so umgehen, dass Weisheit in ihm gedeiht. Das ist das Fazit dieses erhellenden und tiefdringenden Buches.

Und wie geht das? Nicht, indem man IQ-Tests mit Bravour besteht. Wer das schafft, beweist allenfalls Intelligenz. Die wiederum bietet zweifelsfrei guten Nährboden für Weisheit. Über den verfügen in der Regel auch kriegstreibende Staatschefs. Aber was auch immer sie anzetteln, sie führen vor allem ihren eigenen, ganz persönlichen Vorteil im Schilde. 

Weise Menschen sind anders gestrickt. Obwohl sie über vielfältige Erfahrungen verfügen, sind sie sich immer auch der Grenzen ihres Wissens bewusst. Das macht sie zu aufmerksamen und leidenschaftlichen Zuhörern. Was nicht heißt, dass sie bereit sind, jede noch so konträre Meinung zu übernehmen, aber sie hören Kontrahenten mit Offenheit an und wägen ab. Und mehr noch: Sie empfinden es als bereichernd, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen. Auf diese Weise lernen sie zu verstehen und zu akzeptieren, dass jeder ganz eigene Beweggründe für seine Logik hat. Studien zeigen, dass solche Menschen nicht um jeden Preis gewinnen wollen. Ihr Ziel ist es, die bestmögliche Lösung für möglichst viele Menschen zu finden.

Weisheit macht nicht glücklicher, auch das verraten uns Judith Glücks Forschungen. Sie belegen aber, dass weise Menschen ihr Glück viel mehr aus sozialem als aus egoistisch lustgesteuertem Handeln ziehen. Diese Erkenntnis kann nicht nur Präsidenten helfen. Wenn wir sie ernstnehmen, verhelfen wir all unseren kleinen Welten zu Menschlichkeit. 

Aus dem Bett verbannt

Gastkolumne in OM-Medien, Münsterländische Tageszeitung und Oldenburgische Volkszeitung am 26. April

Ich habe ihn ja durchaus lieb, meinen Hund. Wirklich. Und dennoch: In mein Bett kommt er nicht, und auch am Tisch hat er nichts verloren. Diese Tabus haben hygienische Gründe. Obwohl sie bei mir nichts Neues sind, haben sie mich in den letzten Tagen nachdenklich gemacht. Mit dem Ergebnis, dass ich künftig auch mein Handy wie meinen Hund behandeln werde. Habe ich mir jedenfalls vorgenommen. Auch dies übrigens aus hygienischen Gründen. Genauer: aus Gründen der Psychohygiene. Denn all die Krisennachrichten, die in letzter Zeit auf meinem Display erscheinen, haben im Bett nichts zu suchen. Lasse ich sie rein, werde ich sie  womöglich bis zum Morgen nicht mehr los. Und am Tisch versalzen sie mir den leckersten Start in den Tag.

Natürlich kann ich auf allen Social-Media-Plattformen meine Algorithmen erziehen. Mache ich auch, indem ich alle zweifelhaften Verfasser zweifelsfrei erlogener Nachrichten blocke. Und ich kann Facebook mit einem einzigen Klick zu verstehen geben, dass mich dieses oder jenes Thema nicht interessiert. Das wirkt.

Dennoch, im hastigen Medienkonsum manifestiert sich in mir der Eindruck, es gebe nur noch bedrohliche Nachrichten. Bei aufmerksamerer Betrachtung erkenne ich, dass das nicht stimmt. Die Abholzung der Regenwälder nimmt deutlich ab. Noch vor 30 Jahren sind fast zwölf Millionen Kinder gestorben, bevor sie fünf Jahre alt waren. Diese Zahl hat sich mehr als halbiert. Ähnlich stark sind Muttersterblichkeit, Hunger und Armut gesunken. Vor 30 Jahren gab es noch keine Alternative zu fossilen Energien. Heute haben wir sie mit erneuerbaren Energien zur Verfügung. 

In ihrem Buch „Hoffnung für Verzweifelte“ führt die Umweltwissenschaftlerin Hannah Ritchie die Positivliste noch viel weiter. Als Klimaforscherin arbeitet sie im Programm für globale Entwicklung der Universität Oxford. Kurz nach ihrem Studium der Umweltgeowissenschaften glaubte sie, in der schlimmsten Zeit der Menschheitsgeschichte zu leben. Doch dann hat sie Berge von langfristigen Datenentwicklungen ausgewertet. Heute sagt sie: „Wir haben die Chance, als erste Generation Nachhaltigkeit zu erreichen.“ 

Markant ist, dass diese und viele weitere gute Nachrichten uns längst nicht so zielsicher erreichen wie die schlechten. Warum das so ist, sagt uns die Hirnforschung: Unser Gehirn ist so gepolt, dass es auf Bedrohungen stets stärker reagiert als auf Erfreuliches.

Das kenne ich auch aus eigener Erfahrung: Ein körperliches Symptom kann mir tage- und wochenlang Angst vor einer ernsthaften Erkrankung einjagen. Ich sehe die Welt nur noch wie einer, der sie in Kürze verlassen muss. Dann das Resultat des untersuchenden Mediziners: „Ihre Werte sind gut.“ Welch eine Freude! Allerdings hält sie nicht lange. Innerhalb von ein paar Tagen gewöhne ich mich an das Privileg gesund zu sein. Es ist normal geworden. Die Angst zuvor hingegen, die werde ich nie vergessen. 

Das ist menschlich. Der Grund für solches Empfinden liegt bei unseren steinzeitlichen Vorfahren. Die, die sich stets aufmerksam mit allen möglichen Bedrohungen beschäftigten, hatten eine deutlich höhere Überlebenschance. Wer weniger Aufmerksamkeit zeigte, zeigte dem Säbelzahntiger den Weg zum schnellen Fressen und schaffte es nicht, sich fortzupflanzen. Somit ist es das Erbe der vorsichtigen Bedenkenträger, das wir mit uns herumschleppen.

Wir Heutigen stehen nicht vor der Aufgabe, uns vor wilden Tieren in Sicherheit zu bringen. Unsere Aufgabe ist es, unsere Zuversicht zu schützen. Wer glaubt, sie sei das wohlige Gefühl, das im Dunst günstiger Prognosen auf dem Plüschsofa zu erschnuppen sei, irrt. Die Zuversicht ist wie ein Muskel. Der muss trainiert werden. Stark wird er, wenn wir ihm Stärkendes zuführen. 

So könnte ich nie sein. Oder doch?

Gastkolumne in OM-Medien, Münsterländische Tageszeitung und Oldenburgische Volkszeitung am 22. März.

Gesetzt den Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht: wie erklären Sie es sich, dass es dazu nie gekommen ist? 

Keine Angst, liebe Leserinnen und Leser, ich will es gar nicht von Ihnen wissen. Max Frisch war es, der diese Frage in seinem Buch „Fragebogen“ formuliert hat. Auch er war nicht darauf aus, Antworten seiner Leserschaft zu bekommen. Er stellte sich selbst diese Frage, wie auch viele weitere, die ebenso dazu verleiten, eigenes Denken und Tun zu hinterfragen.

Es gehört Mut dazu, solches, wenn auch nur im Selbstgespräch, ehrlich zu beantworten. Schnell kann sich nämlich herausstellen, dass unsereins gar nicht immer das Gute will, und dass die miesen Typen nicht immer die anderen sind. So eine Erkenntnis wirkt wie ein Biss ins eigene Gemüt. Da blicke ich schon lieber auf die prominenten Aggressoren unserer Zeit und stelle fest: So könnte ich nie sein.

Natürlich hätte ich schon hin und wieder jemanden am liebsten auf den Mond geschossen. Und das, obwohl ich weiß, dass ein Aufenthalt dort oben alles andere als eine lebenserhaltende Maßnahme ist. Klar, ich könnte solch einen Abtransport gar nicht organisieren. Schließlich habe ich kein Raumschiff in der Garage. Aber wenn ich eins hätte … 

Autokraten scheinen alles zu können. Mit ihren Lügen zertrümmern präsidiale Gangster systematisch unsere bewährten demokratischen Werte. Wie einen abgefuckten Fußball treiben testosteronschwangere Männer unsere Erde vor sich her – geradewegs Richtung Aus. Und das alles mittels ihrer Lügen, die sie in imperialistischen Reden wie monomanische Verse zelebrieren. 

Von der Philosophin Hanna Arendt gibt es ein vernichtendes und nachdenklich machendes Zitat über Autokratien. Es lautet: „Dieses ständige Lügen zielt nicht darauf ab, dass die Menschen eine Lüge glauben, sondern darauf, dass niemand mehr etwas glaubt. Ein Volk, das nicht mehr zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden kann, kann nicht mehr zwischen Recht und Unrecht unterscheiden. Und ein solches Volk, der Fähigkeit zu denken und zu urteilen beraubt, ist, ohne es zu wissen und zu wollen, völlig der Herrschaft und der Lüge unterworfen. Mit einem solchen Volk kann man machen, was man will.“

Einer, der gegen die verbrecherischen Lügen seiner Zeit öffentlich das Wort erhob, war Clemens August Graf von Galen. Durch seine Kritik am Terror der Gestapo schrieb er als Löwe von Münster Geschichte. Heute vor 79 Jahren starb er.

Wir brauchen nicht den Mut eines Löwen, aber unsere Aufgabe ist es, die Hoffnung wachzuhalten. Hoffnung ist mehr als eine innere Haltung. Klang bekommt sie durch unserer Sprache. Apokalyptische Szenarien, Panikmache, Verleumdung und Ehrabschneiderei wirken hoffnungslos, denn sie vergiften Beziehungen und brechen den Willen zur Zukunft. Hoffnung hingegen ist eine Haltung der Offenheit. Sie ist in Krisenzeiten nicht nur lebenswichtig, sie ist eine Konsequenz, die aus der Krise folgt. Ohne Krise sähen wir überhaupt keine Notwendigkeit zu hoffen: Nur weil jemand krank ist, erhofft er seine Gesundheit, nur weil Unfriede herrscht, erhoffen wir Frieden.

Nichts brauchen wir in der Krise mehr als die Hoffnung. Nur mit ihr können wir sie überwinden. Denn Hoffnung gibt uns genau die Kraft, die wir brauchen, um aus schweren Situationen herauszukommen. Die Hoffnung ist es, die uns zu Taten führt, Hoffnungslosigkeit hingegen ist gleichzusetzen mit Kapitulation. Hoffnung zu verbreiten und zu stärken, haben sich Religionen auf die Fahnen geschrieben. Politik sollte es auch tun. Und wir alle.

Unter Wölfen

Gastkolumne in OM-Medien, Münsterländische Tageszeitung und Oldenburgische Volkszeitung am 15. Februar.

Nette Menschen kommen ja (vermutlich) in den Himmel, aber die Ziele von Halunken sind auch nicht unattraktiv. Schließlich kommen gerade sie überall hin. Das gelingt ihnen nicht immer, aber sehr, sehr oft. Letzteres scheint zu einer grassierenden Binsenweisheit geworden zu sein, die auch simpelste Gemüter mit Löffeln gefressen haben. Woher sonst weht der scharfe Wind, der die Freundlichkeit von den Straßen, aus der Politik und aus den sozialen Medien gefegt hat!? Das zwischenmenschliche Klima ist bissig geworden, und die Freundlichkeit scheint nur noch Sache der Schwachen und Naiven zu sein. Da keiner schwach und naiv sein will, ist es für jeden verführerisch, anderen auf ihrem Egotrip zu folgen.

Und dann? Das will ich mir gar nicht ausmalen. Stattdessen sage ich mir, dass Freundlichkeit gerade in Zeiten bissiger Egomanie wie eine Flasche Wasser auf einer Wüstentour wirken kann. Wir sollten unsere Flaschen zischen lassen – und das aus einem durchaus egoistischen Grund. Denn Freundlichkeit und gesunder Egoismus sind keine Gegensätze. Sie gehen Hand in Hand. Das heißt, wer Freundlichkeit gibt, bekommt sie entgegengebracht – und sieht sein Gegenüber in wärmerem Licht.

Klar, das klappt nicht immer, aber meistens. Wer es nicht glaubt, sollte es ausprobieren. Der nächste Supermarkt ist nur eines von unzähligen Versuchsfeldern. Wenn dort die Aushilfskraft Waren ins Regal wuchtet, muss ich nicht stumm vorbeigehen. Ich kann ihr auch sagen, dass ich ihr für den Rest dieses Tages nur noch leichte Momente wünsche. Dadurch wird ihr Job nicht einfacher, aber sie tut ihn leichteren Herzens. Zumindest in dem Moment, in dem sie gar nicht anders kann, als mich erfreut anzuschauen.

Demagogen, Populisten und Diktatoren, die davon träumen, wie zu Zarenzeiten zu herrschen, mögen keine Freundlichkeit. Sie schadet ihrem Geschäft. Also pumpen sie Misstrauen und Hass ins Land. So können Unfreundlichkeit und eine politische Kultur der Kaltblütigkeit gedeihen. Wer das nicht sehen will, geht Populisten in die Falle. Dort lernt er zu hassen und zu werden wie sie. 

Kann ich der Falle entgehen? Ja, indem ich versuche, in meinem ganz eigenen Umfeld achtsam und freundlich zu sein. Das ist kein Rückzug, das ist Aktivität, die Beachtung findet. Denn wenn die Mehrheit in ihrem kleinen Bereich etwas tut, kommt am Ende etwas Großes dabei heraus.

Allerdings sollte man nicht lange darüber nachdenken, ob man seine Freundlichkeit herauslässt oder sie sich verkneift. Wieder einmal sind es Harvard-Forscher, die dazu etwas Spannendes herausgefunden haben: Schnelle Entscheidungen, so sagen sie, führen eher zu freundlichem Verhalten. Wer länger nachdenkt, neigt zum Egoismus. Beide Seiten sind in uns lebendig. Wie man am besten mit ihnen umgeht, zeigt eine Parabel: 

Ein Großvater sagte einst zu seinem Enkel: „In mir findet ein Kampf statt, ein Kampf zwischen zwei Wölfen. Einer ist schlecht, böse, habgierig, eifersüchtig, arrogant und feige. Der andere ist gut – er ist ruhig, liebevoll, bescheiden, großzügig, ehrlich und vertrauenswürdig. Diese Wölfe kämpfen auch in dir und in jeder anderen Person.“ Der Junge dachte einen Moment nach und fragte dann: „Welcher Wolf wird gewinnen?“ Der Alte lächelte: „Der Wolf, den du fütterst.“

Wenn nicht jetzt, wann dann?!

Gastkolumne in OM-Medien am 11. Januar

Obwohl ich nur wenig über ihn weiß, nicht einmal seinen Namen kenne, würde ich einen wie ihn gern kennenlernen. Wahrscheinlich hat er mir nämlich etwas voraus, und mit diesem gewissen Etwas würde er mich womöglich infizieren. Einer wie er registriert und verarbeitet die zahllosen Krisenmeldungen dieser bleiernen Zeit durchaus, aber sie drücken ihn nicht nieder. Das belegt eine Harvard-Studie, an der er teilgenommen hat. Sie ist eine der umfangreichsten wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Glück und Gesundheit. Eines der Ergebnisse: Dieser Mann gilt als der glücklichste von 2000 Teilnehmern. Bekannt ist über ihn, dass er gern Lehrer war und dass er seine Schüler und Familie liebte. Ihm werden ausgeprägte soziale Fähigkeiten und eine hohe emotionale Intelligenz zugeschrieben. Und was ganz wesentlich ist: Er kümmert sich um andere Menschen. 

Letzteres zahle sich insbesondere auf sein Wohlbefinden aus, sagt Co-Studienleiter Robert Waldinger in einem Interview mit der „Zeit“. Es spiele keine Rolle, so der Psychologieprofessor, ob sich jemand um andere kümmere, um sich selbst gut zu fühlen, oder ob er es ganz selbstlos tue. „Entscheidend ist, dass man sich besser fühlt.“ Es gibt dazu eine Aussage des Dalai Lama: „Die weise eigennützige Person kümmert sich um andere Menschen.“

Nun, wo dies auch Erkenntnis der seit 1938 geführten Harvard-Forschung ist, erkenne ich genau darin ein Licht, das in dunkler Zeit zur Zuversicht führen kann. Mir ist klar, dass der Weg dorthin gehörig unter Beschuss steht, denn die Zuversicht hat einen starken Gegner: den Zynismus. Von ihm sind nicht zuletzt ältere Menschen befallen, die lamentieren, jetzt drohe das Aus, weil alles den Bach runtergehe, was sie an Wertvollem geschaffen haben. Dies ist nicht nur falsch, es wirkt auch als Totschlagargument für alle, die eh dazu neigen, schockstarr in Untätigkeit zu verharren. 

Man muss sich mal vorstellen, was derartige Haltung für unsere Kinder- und Enkelgenerationen bedeutet. Wir berauben sie einer Hoffnung, die in ihnen noch viel mehr als in älteren Menschen zu Hause ist. Sie ist eine Kraft, mit der sie sich ins Ungewisse wagen. Und das obwohl sie klug sind und genau sehen, wie eng es für sie auf dieser Erde wird. Ich glaube, sie können so sein, weil sie nach vorne blickend auch noch etwas völlig anderes sehen als ihre Eltern und Großeltern: ihre noch ungestillte Lust auf liebende Berührungen, auf Vergnügen und auf Erfahrungen, die ihre Eltern nie gemacht haben. 

In diesem Zusammenhang drängt sich mir ein Satz des Arztes, Philosophen, Theologen und Friedensnobelpreisträgers Albert Schweitzer geradezu auf: „Du bist so jung wie deine Zuversicht, so alt wie deine Zweifel.“

Klar, dem kann man entgegenhalten, Optimismus in finstren Zeiten sei nichts anderes als ein Indiz für Intelligenzverfettung. Dies mag zutreffen, wenn Optimismus gepaart mit Naivität daherkommt. Aber Optimisten sind nicht per se naiv. Jedenfalls dann nicht, wenn sie Probleme klar erkennen und dennoch glauben, dass sie lösbar sind. Keine noch so große und unglaubliche Erfindung der Menschheit wäre ohne diese Haltung zustande gekommen. Und wenn die ganze Welt sagte, das geht nicht, fühlten diese Optimisten sich getrieben, es hinzukriegen. 

In einem halbwegs glücklichen Leben verstecken sich Optimismus und Zuversicht kaum noch vor uns. Darum sollten wir es angehen, das glückliche Leben. Gerade jetzt. Das hat mich die Harvard-Studie gelehrt. Ich glaube, am sichersten gelingt es, wenn wir anderen zu etwas mehr Glück verhelfen. Wenn wir anschließend in ihre Augen blicken, sehen wir die Quittung. Und die macht glücklich.

Eine ganz normale Frage?

Gastkolumne in OM-Medien am 7. Dezember

Es gibt Fragen, die kommen wie Gaffer daher. Sie sind so unangenehm wie jemand, der einem bis in die Umkleidekabine folgt. Eine dieser Fragen taucht insbesondere im Advent in vielen Köpfen auf. Bei einigen Begegnungen schiebt sie sich ganz flott auf die Zunge, und manchmal rutscht sie einem dann einfach heraus. Schließlich möchte man von seinem Gegenüber doch gerne wissen: „Und was machst du so an Weihnachten?“ 

Menschen, die sich auf diese Tage freuen, mag die Frage völlig normal und unverfänglich erscheinen. Ganz anders kommt sie jedoch bei denen an, die mit Beklemmung an solch stimmungsreiche Zeit denken. Sie wittern, dass sie mit ihrer Antwort eine Menge über sich preisgeben. Unter Umständen sogar mehr als gegenüber dem eigenen Spiegelbild. Wie auch immer sie es formulieren, es wird herauszuhören sein, ob ihnen Familie Heimathafen oder nichts als Qualverwandtschaft bedeutet. Ob Geschwister sich miteinander verbunden fühlen, oder ob zwischen ihnen längst Gleichgültigkeit herrscht. Oder ob die, deren Nähe man unterm Weihnachtsbaum ersehnt, nur noch in liebenden Erinnerungen leben. 

Weihnachten gilt als das Fest der Liebe. Aber was ist, wenn ausgerechnet sie zu wenig spürbar ist? Wenn im Licht der Kerzen allzu deutlich sichtbar wird, was an 364 Tagen übersehen, ignoriert, kritisiert, in Grund und Boden geschrien, verraten und vergessen wurde. Wer nur noch das betrachtet, sieht im Fest der Liebe nichts als einen Schaden am Tradionsgetriebe. Doch solches Ignorieren, Vergessen und Verraten passiert uns allen. Es ist hässlich und unter Umständen kaum auszuhalten. – Das ist Leben. 

Ja, und dann gibt es da noch die „Heilige Familie“ in der Krippe unterm Weihnachtsbaum. Heile ist allerdings auch bei ihr nichts. Mit etwa 14 Jahren bekommt Maria ein uneheliches Kind. „Nicht von mir“, meint Josef, ihr Verlobter. Er ist drauf und dran, sich aus dem Staub zu machen. Letztlich bleibt er, weil ein Engel ihn im Traum mit aller Überzeugungskraft bearbeitet hat.  

Und auch all die anderen Familiengeschichten aus der Bibel haben es in sich. Sie sind alles andere als Kuschelprosa. Da geht es um Geschwister, die einander nach dem Leben trachten, um Erbschleicher, um Väter, die ihre Söhne verraten, um ruhmsüchtige und eifersüchtige Typen.

Es gab und gibt also jede Menge zu bejammern. Aber man kann sich auch in Erinnerung rufen, was Weihnachten gefeiert wird: die Geburt Jesu, die Geburt des Christentums. Letzteres lehrt uns: Wir alle sind brillante Scheiterer. – Wenn wir uns das vor Augen halten, kann Weihnachten nur gelingen. Denn jedes völlig falsche Wort unterm Tannenbaum, jeder Rotweinfleck auf der Decke, jede vergeblich erwartete SMS, jede blöde Bemerkung und jede falsch geschätzte Pullovergröße, all das gehört zur Feier des Menschseins. Denn das Menschsein ist keine Sache des Seins, sondern eine des Werdens.