Der Allmächtige schwächelt?

Gastkolumne in OM-Medien, Münsterländische Tageszeitung und Oldenburgische Volkszeitung am 5. Juli

Kann doch gar nicht sein. Das war lange Zeit mein Gedanke, nachdem man mir als Kind von der göttlichen Großbaustelle namens Welt erzählt hatte. Okay, der einstige Bauleiter hat sein Projekt ohne Durchhänger binnen sechs Tagen durchgezogen. Das ist im Schöpfungsbericht der Bibel nachzulesen. Aber dass einer, der über Allmacht verfügt, am siebten Tag eine Auszeit braucht, ging mir nicht in den Kopf. Das passt da auch heute noch nicht rein. Einer, der alles kann, muss doch auch pausenlos weitermachen können. 

Mir ist schon klar, was ich da schreibe, mag ketzerisch anmuten, aber mittlerweile habe ich etwas Schönes begriffen: So einer ruht sich nicht aus, weil er befürchtet, dass sonst nichts mehr gehen würde. Der macht das einfach, weil er es will. So findet er Zeit, durchzuatmen und wertschätzend auf das zu blicken, was er bereits erschaffen hat. Und da er auch uns gemacht hat, heißt das, dass auch wir etwas von diesen wertschätzenden Blicken abbekommen.

Häufig tun wir Heutigen so, als wäre die Pause ein göttliches Privileg, das Pimpfen wie uns nicht zustünde. Pausen – im Sinne von Nichtstun – scheinen in digitalen Zeiten vom Aussterben bedroht zu sein. Selbst im Urlaub sind sie rar geworden. Wir lesen Mails, während wir kauen, chatten, während wir netflixen, verteilen Likes, während wir einen Podcast hören, und wenn uns jemand eine Nachricht aufs Display schickt, finden wir es normal, innerhalb von Minuten darauf zu antworten.

Bereits vor über 70 Jahren gab es einen Mann, der sich so sehr um die Pause sorgte, dass er ein wahrlich revolutionäres Konzert inszenierte. Es war der amerikanische Komponist John Cage. Am 29. August 1952 fand in der Maverick Concert Hall in Woodstock die Uraufführung statt. Das Stück besteht aus drei Sätzen, die insgesamt 4 Minuten und 33 Sekunden dauern. Daher sein Titel: „4´33“. Als der Pianist die Bühne betrat und sich an den schwarzen Flügel setzte, deutete noch alles auf einen ganz normalen Konzertabend hin. Doch als er sein Notenwerk vor sich aufgestellt hatte, wurde es merkwürdig. Statt in die Tasten griff er zur Stoppuhr, drückte auf Start, schaute 4 Minuten und 33 Sekunden lang aufs Zifferblatt, drückte dann auf Stopp, klappte den Klavierdeckel zu, verneigte sich und zog von dannen. Zu hören gab es keine konventionellen musikalischen Klänge, nur das Rascheln, Scharren und Räuspern der Konzertgäste. Auf diese Weise hatte John Cage der Pause demonstrativ einen Wert geschenkt.

Wir sollten darauf achten, dass wir nicht nur die Akkus unserer Handys aufladen, sondern auch uns selbst. Jetzt, in der Urlaubszeit, kann es klappen, hin und wieder Pausen zu machen, in denen wir wirklich mal nichts tun. Denn genau betrachtet, ist die Pause nicht nichts. In ihr kann viel geschehen: Die gehetzte Atmung kann sich beruhigen, der hohe Pulsschlag sinken und die angespannten Netzwerke im Gehirn können sich erholen. Und das Schöne ist: Im Urlaub müssen wir dazu nicht um Erlaubnis fragen. Denn das Wort „Urlaub“ hat seinen Ursprung im althochdeutschen Wort „Urloub“, und das bedeutet „Erlaubnis“. Früher ging es um die Erlaubnis, sich von einer Burg oder vom Militärdienst zu entfernen. Heute um die Erlaubnis, endlich mal wieder zu uns zu kommen.

Wenn mein Traum zu Taten treibt

Screenshot

Gastkolumne in OM-Medien, Münsterländische Tageszeitung, Oldenburgische Volkszeitung am 31. Mai.

Ich habe einen Wunsch, einen, der mir immer heftiger unter den Nägeln brennt. Manchmal träume ich sogar von ihm und glaube beim Weckerklingeln doch tatsächlich, er sei in Erfüllung gegangen. Dies jedoch allenfalls eine Sekunde lang. In der Erfüllung dieses Wunsches werden die Staaten dieser Erde – quasi über Nacht – nur noch von weisen Präsidentinnen und Präsidenten regiert. 

Aber was ist das eigentlich, Weisheit? Orientiere ich mich an Märchen und Mythen, ist Weisheit eindeutig ein Privileg des Alters. Alte Präsidenten fallen mir so einige ein. Doch sie sind keine Märchengestalten, die bereits üppige Portionen Weisheit löffeln, während alle andere Figuren noch nach dem Besteck suchend durch die Märchenwälder stolpern. Diese alten Männer haben nicht das Zeug, besonnen Streit zu schlichten, sie führen ihn herbei. Und wer ihnen kontert, dem kommen sie mit Kanonen. Meine ernüchternde Erkenntnis: Alter wird nicht vollautomatisch mit Weisheit ausgestattet. 

Doch jetzt die gute Nachricht. Und die kommt nicht von einer Märchenprinzessin sondern von Judith Glück. Die geborene Münchnerin ist Weisheitsforscherin und Professorin der Psychologie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. In ihrem Buch „Weisheit“ geht sie der Frage nach, was diese Eigenschaft eigentlich bedeutet. Fällt sie Menschen zu wie eine Gabe, oder beruht sie auf Fähigkeiten, die sich erlernen lassen? 

Im Ergebnis jahrzehntelanger Forschungsarbeit erkennt Judith Glück fünf Eigenschaften, über die weise Menschen verfügen: Sie zeigen sich offen für neue Perspektiven, sie haben Einfühlungsvermögen, verhalten sich reflektiert, gehen klug mit eigenen Gefühlen um und haben Selbstvertrauen.

Das sind nicht per se präsidiale Eigenschaften. Auch sind sie nicht mit dem Zepter in der Hand herbeizuzaubern. Sie werden auch niemandem einfach in die Wiege gelegt. Aber jeder Mensch kann mit seinen Lebenserfahrungen so umgehen, dass Weisheit in ihm gedeiht. Das ist das Fazit dieses erhellenden und tiefdringenden Buches.

Und wie geht das? Nicht, indem man IQ-Tests mit Bravour besteht. Wer das schafft, beweist allenfalls Intelligenz. Die wiederum bietet zweifelsfrei guten Nährboden für Weisheit. Über den verfügen in der Regel auch kriegstreibende Staatschefs. Aber was auch immer sie anzetteln, sie führen vor allem ihren eigenen, ganz persönlichen Vorteil im Schilde. 

Weise Menschen sind anders gestrickt. Obwohl sie über vielfältige Erfahrungen verfügen, sind sie sich immer auch der Grenzen ihres Wissens bewusst. Das macht sie zu aufmerksamen und leidenschaftlichen Zuhörern. Was nicht heißt, dass sie bereit sind, jede noch so konträre Meinung zu übernehmen, aber sie hören Kontrahenten mit Offenheit an und wägen ab. Und mehr noch: Sie empfinden es als bereichernd, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen. Auf diese Weise lernen sie zu verstehen und zu akzeptieren, dass jeder ganz eigene Beweggründe für seine Logik hat. Studien zeigen, dass solche Menschen nicht um jeden Preis gewinnen wollen. Ihr Ziel ist es, die bestmögliche Lösung für möglichst viele Menschen zu finden.

Weisheit macht nicht glücklicher, auch das verraten uns Judith Glücks Forschungen. Sie belegen aber, dass weise Menschen ihr Glück viel mehr aus sozialem als aus egoistisch lustgesteuertem Handeln ziehen. Diese Erkenntnis kann nicht nur Präsidenten helfen. Wenn wir sie ernstnehmen, verhelfen wir all unseren kleinen Welten zu Menschlichkeit. 

Aus dem Bett verbannt

Gastkolumne in OM-Medien, Münsterländische Tageszeitung und Oldenburgische Volkszeitung am 26. April

Ich habe ihn ja durchaus lieb, meinen Hund. Wirklich. Und dennoch: In mein Bett kommt er nicht, und auch am Tisch hat er nichts verloren. Diese Tabus haben hygienische Gründe. Obwohl sie bei mir nichts Neues sind, haben sie mich in den letzten Tagen nachdenklich gemacht. Mit dem Ergebnis, dass ich künftig auch mein Handy wie meinen Hund behandeln werde. Habe ich mir jedenfalls vorgenommen. Auch dies übrigens aus hygienischen Gründen. Genauer: aus Gründen der Psychohygiene. Denn all die Krisennachrichten, die in letzter Zeit auf meinem Display erscheinen, haben im Bett nichts zu suchen. Lasse ich sie rein, werde ich sie  womöglich bis zum Morgen nicht mehr los. Und am Tisch versalzen sie mir den leckersten Start in den Tag.

Natürlich kann ich auf allen Social-Media-Plattformen meine Algorithmen erziehen. Mache ich auch, indem ich alle zweifelhaften Verfasser zweifelsfrei erlogener Nachrichten blocke. Und ich kann Facebook mit einem einzigen Klick zu verstehen geben, dass mich dieses oder jenes Thema nicht interessiert. Das wirkt.

Dennoch, im hastigen Medienkonsum manifestiert sich in mir der Eindruck, es gebe nur noch bedrohliche Nachrichten. Bei aufmerksamerer Betrachtung erkenne ich, dass das nicht stimmt. Die Abholzung der Regenwälder nimmt deutlich ab. Noch vor 30 Jahren sind fast zwölf Millionen Kinder gestorben, bevor sie fünf Jahre alt waren. Diese Zahl hat sich mehr als halbiert. Ähnlich stark sind Muttersterblichkeit, Hunger und Armut gesunken. Vor 30 Jahren gab es noch keine Alternative zu fossilen Energien. Heute haben wir sie mit erneuerbaren Energien zur Verfügung. 

In ihrem Buch „Hoffnung für Verzweifelte“ führt die Umweltwissenschaftlerin Hannah Ritchie die Positivliste noch viel weiter. Als Klimaforscherin arbeitet sie im Programm für globale Entwicklung der Universität Oxford. Kurz nach ihrem Studium der Umweltgeowissenschaften glaubte sie, in der schlimmsten Zeit der Menschheitsgeschichte zu leben. Doch dann hat sie Berge von langfristigen Datenentwicklungen ausgewertet. Heute sagt sie: „Wir haben die Chance, als erste Generation Nachhaltigkeit zu erreichen.“ 

Markant ist, dass diese und viele weitere gute Nachrichten uns längst nicht so zielsicher erreichen wie die schlechten. Warum das so ist, sagt uns die Hirnforschung: Unser Gehirn ist so gepolt, dass es auf Bedrohungen stets stärker reagiert als auf Erfreuliches.

Das kenne ich auch aus eigener Erfahrung: Ein körperliches Symptom kann mir tage- und wochenlang Angst vor einer ernsthaften Erkrankung einjagen. Ich sehe die Welt nur noch wie einer, der sie in Kürze verlassen muss. Dann das Resultat des untersuchenden Mediziners: „Ihre Werte sind gut.“ Welch eine Freude! Allerdings hält sie nicht lange. Innerhalb von ein paar Tagen gewöhne ich mich an das Privileg gesund zu sein. Es ist normal geworden. Die Angst zuvor hingegen, die werde ich nie vergessen. 

Das ist menschlich. Der Grund für solches Empfinden liegt bei unseren steinzeitlichen Vorfahren. Die, die sich stets aufmerksam mit allen möglichen Bedrohungen beschäftigten, hatten eine deutlich höhere Überlebenschance. Wer weniger Aufmerksamkeit zeigte, zeigte dem Säbelzahntiger den Weg zum schnellen Fressen und schaffte es nicht, sich fortzupflanzen. Somit ist es das Erbe der vorsichtigen Bedenkenträger, das wir mit uns herumschleppen.

Wir Heutigen stehen nicht vor der Aufgabe, uns vor wilden Tieren in Sicherheit zu bringen. Unsere Aufgabe ist es, unsere Zuversicht zu schützen. Wer glaubt, sie sei das wohlige Gefühl, das im Dunst günstiger Prognosen auf dem Plüschsofa zu erschnuppen sei, irrt. Die Zuversicht ist wie ein Muskel. Der muss trainiert werden. Stark wird er, wenn wir ihm Stärkendes zuführen. 

So könnte ich nie sein. Oder doch?

Gastkolumne in OM-Medien, Münsterländische Tageszeitung und Oldenburgische Volkszeitung am 22. März.

Gesetzt den Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht: wie erklären Sie es sich, dass es dazu nie gekommen ist? 

Keine Angst, liebe Leserinnen und Leser, ich will es gar nicht von Ihnen wissen. Max Frisch war es, der diese Frage in seinem Buch „Fragebogen“ formuliert hat. Auch er war nicht darauf aus, Antworten seiner Leserschaft zu bekommen. Er stellte sich selbst diese Frage, wie auch viele weitere, die ebenso dazu verleiten, eigenes Denken und Tun zu hinterfragen.

Es gehört Mut dazu, solches, wenn auch nur im Selbstgespräch, ehrlich zu beantworten. Schnell kann sich nämlich herausstellen, dass unsereins gar nicht immer das Gute will, und dass die miesen Typen nicht immer die anderen sind. So eine Erkenntnis wirkt wie ein Biss ins eigene Gemüt. Da blicke ich schon lieber auf die prominenten Aggressoren unserer Zeit und stelle fest: So könnte ich nie sein.

Natürlich hätte ich schon hin und wieder jemanden am liebsten auf den Mond geschossen. Und das, obwohl ich weiß, dass ein Aufenthalt dort oben alles andere als eine lebenserhaltende Maßnahme ist. Klar, ich könnte solch einen Abtransport gar nicht organisieren. Schließlich habe ich kein Raumschiff in der Garage. Aber wenn ich eins hätte … 

Autokraten scheinen alles zu können. Mit ihren Lügen zertrümmern präsidiale Gangster systematisch unsere bewährten demokratischen Werte. Wie einen abgefuckten Fußball treiben testosteronschwangere Männer unsere Erde vor sich her – geradewegs Richtung Aus. Und das alles mittels ihrer Lügen, die sie in imperialistischen Reden wie monomanische Verse zelebrieren. 

Von der Philosophin Hanna Arendt gibt es ein vernichtendes und nachdenklich machendes Zitat über Autokratien. Es lautet: „Dieses ständige Lügen zielt nicht darauf ab, dass die Menschen eine Lüge glauben, sondern darauf, dass niemand mehr etwas glaubt. Ein Volk, das nicht mehr zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden kann, kann nicht mehr zwischen Recht und Unrecht unterscheiden. Und ein solches Volk, der Fähigkeit zu denken und zu urteilen beraubt, ist, ohne es zu wissen und zu wollen, völlig der Herrschaft und der Lüge unterworfen. Mit einem solchen Volk kann man machen, was man will.“

Einer, der gegen die verbrecherischen Lügen seiner Zeit öffentlich das Wort erhob, war Clemens August Graf von Galen. Durch seine Kritik am Terror der Gestapo schrieb er als Löwe von Münster Geschichte. Heute vor 79 Jahren starb er.

Wir brauchen nicht den Mut eines Löwen, aber unsere Aufgabe ist es, die Hoffnung wachzuhalten. Hoffnung ist mehr als eine innere Haltung. Klang bekommt sie durch unserer Sprache. Apokalyptische Szenarien, Panikmache, Verleumdung und Ehrabschneiderei wirken hoffnungslos, denn sie vergiften Beziehungen und brechen den Willen zur Zukunft. Hoffnung hingegen ist eine Haltung der Offenheit. Sie ist in Krisenzeiten nicht nur lebenswichtig, sie ist eine Konsequenz, die aus der Krise folgt. Ohne Krise sähen wir überhaupt keine Notwendigkeit zu hoffen: Nur weil jemand krank ist, erhofft er seine Gesundheit, nur weil Unfriede herrscht, erhoffen wir Frieden.

Nichts brauchen wir in der Krise mehr als die Hoffnung. Nur mit ihr können wir sie überwinden. Denn Hoffnung gibt uns genau die Kraft, die wir brauchen, um aus schweren Situationen herauszukommen. Die Hoffnung ist es, die uns zu Taten führt, Hoffnungslosigkeit hingegen ist gleichzusetzen mit Kapitulation. Hoffnung zu verbreiten und zu stärken, haben sich Religionen auf die Fahnen geschrieben. Politik sollte es auch tun. Und wir alle.

Unter Wölfen

Gastkolumne in OM-Medien, Münsterländische Tageszeitung und Oldenburgische Volkszeitung am 15. Februar.

Nette Menschen kommen ja (vermutlich) in den Himmel, aber die Ziele von Halunken sind auch nicht unattraktiv. Schließlich kommen gerade sie überall hin. Das gelingt ihnen nicht immer, aber sehr, sehr oft. Letzteres scheint zu einer grassierenden Binsenweisheit geworden zu sein, die auch simpelste Gemüter mit Löffeln gefressen haben. Woher sonst weht der scharfe Wind, der die Freundlichkeit von den Straßen, aus der Politik und aus den sozialen Medien gefegt hat!? Das zwischenmenschliche Klima ist bissig geworden, und die Freundlichkeit scheint nur noch Sache der Schwachen und Naiven zu sein. Da keiner schwach und naiv sein will, ist es für jeden verführerisch, anderen auf ihrem Egotrip zu folgen.

Und dann? Das will ich mir gar nicht ausmalen. Stattdessen sage ich mir, dass Freundlichkeit gerade in Zeiten bissiger Egomanie wie eine Flasche Wasser auf einer Wüstentour wirken kann. Wir sollten unsere Flaschen zischen lassen – und das aus einem durchaus egoistischen Grund. Denn Freundlichkeit und gesunder Egoismus sind keine Gegensätze. Sie gehen Hand in Hand. Das heißt, wer Freundlichkeit gibt, bekommt sie entgegengebracht – und sieht sein Gegenüber in wärmerem Licht.

Klar, das klappt nicht immer, aber meistens. Wer es nicht glaubt, sollte es ausprobieren. Der nächste Supermarkt ist nur eines von unzähligen Versuchsfeldern. Wenn dort die Aushilfskraft Waren ins Regal wuchtet, muss ich nicht stumm vorbeigehen. Ich kann ihr auch sagen, dass ich ihr für den Rest dieses Tages nur noch leichte Momente wünsche. Dadurch wird ihr Job nicht einfacher, aber sie tut ihn leichteren Herzens. Zumindest in dem Moment, in dem sie gar nicht anders kann, als mich erfreut anzuschauen.

Demagogen, Populisten und Diktatoren, die davon träumen, wie zu Zarenzeiten zu herrschen, mögen keine Freundlichkeit. Sie schadet ihrem Geschäft. Also pumpen sie Misstrauen und Hass ins Land. So können Unfreundlichkeit und eine politische Kultur der Kaltblütigkeit gedeihen. Wer das nicht sehen will, geht Populisten in die Falle. Dort lernt er zu hassen und zu werden wie sie. 

Kann ich der Falle entgehen? Ja, indem ich versuche, in meinem ganz eigenen Umfeld achtsam und freundlich zu sein. Das ist kein Rückzug, das ist Aktivität, die Beachtung findet. Denn wenn die Mehrheit in ihrem kleinen Bereich etwas tut, kommt am Ende etwas Großes dabei heraus.

Allerdings sollte man nicht lange darüber nachdenken, ob man seine Freundlichkeit herauslässt oder sie sich verkneift. Wieder einmal sind es Harvard-Forscher, die dazu etwas Spannendes herausgefunden haben: Schnelle Entscheidungen, so sagen sie, führen eher zu freundlichem Verhalten. Wer länger nachdenkt, neigt zum Egoismus. Beide Seiten sind in uns lebendig. Wie man am besten mit ihnen umgeht, zeigt eine Parabel: 

Ein Großvater sagte einst zu seinem Enkel: „In mir findet ein Kampf statt, ein Kampf zwischen zwei Wölfen. Einer ist schlecht, böse, habgierig, eifersüchtig, arrogant und feige. Der andere ist gut – er ist ruhig, liebevoll, bescheiden, großzügig, ehrlich und vertrauenswürdig. Diese Wölfe kämpfen auch in dir und in jeder anderen Person.“ Der Junge dachte einen Moment nach und fragte dann: „Welcher Wolf wird gewinnen?“ Der Alte lächelte: „Der Wolf, den du fütterst.“

Wenn nicht jetzt, wann dann?!

Gastkolumne in OM-Medien am 11. Januar

Obwohl ich nur wenig über ihn weiß, nicht einmal seinen Namen kenne, würde ich einen wie ihn gern kennenlernen. Wahrscheinlich hat er mir nämlich etwas voraus, und mit diesem gewissen Etwas würde er mich womöglich infizieren. Einer wie er registriert und verarbeitet die zahllosen Krisenmeldungen dieser bleiernen Zeit durchaus, aber sie drücken ihn nicht nieder. Das belegt eine Harvard-Studie, an der er teilgenommen hat. Sie ist eine der umfangreichsten wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Glück und Gesundheit. Eines der Ergebnisse: Dieser Mann gilt als der glücklichste von 2000 Teilnehmern. Bekannt ist über ihn, dass er gern Lehrer war und dass er seine Schüler und Familie liebte. Ihm werden ausgeprägte soziale Fähigkeiten und eine hohe emotionale Intelligenz zugeschrieben. Und was ganz wesentlich ist: Er kümmert sich um andere Menschen. 

Letzteres zahle sich insbesondere auf sein Wohlbefinden aus, sagt Co-Studienleiter Robert Waldinger in einem Interview mit der „Zeit“. Es spiele keine Rolle, so der Psychologieprofessor, ob sich jemand um andere kümmere, um sich selbst gut zu fühlen, oder ob er es ganz selbstlos tue. „Entscheidend ist, dass man sich besser fühlt.“ Es gibt dazu eine Aussage des Dalai Lama: „Die weise eigennützige Person kümmert sich um andere Menschen.“

Nun, wo dies auch Erkenntnis der seit 1938 geführten Harvard-Forschung ist, erkenne ich genau darin ein Licht, das in dunkler Zeit zur Zuversicht führen kann. Mir ist klar, dass der Weg dorthin gehörig unter Beschuss steht, denn die Zuversicht hat einen starken Gegner: den Zynismus. Von ihm sind nicht zuletzt ältere Menschen befallen, die lamentieren, jetzt drohe das Aus, weil alles den Bach runtergehe, was sie an Wertvollem geschaffen haben. Dies ist nicht nur falsch, es wirkt auch als Totschlagargument für alle, die eh dazu neigen, schockstarr in Untätigkeit zu verharren. 

Man muss sich mal vorstellen, was derartige Haltung für unsere Kinder- und Enkelgenerationen bedeutet. Wir berauben sie einer Hoffnung, die in ihnen noch viel mehr als in älteren Menschen zu Hause ist. Sie ist eine Kraft, mit der sie sich ins Ungewisse wagen. Und das obwohl sie klug sind und genau sehen, wie eng es für sie auf dieser Erde wird. Ich glaube, sie können so sein, weil sie nach vorne blickend auch noch etwas völlig anderes sehen als ihre Eltern und Großeltern: ihre noch ungestillte Lust auf liebende Berührungen, auf Vergnügen und auf Erfahrungen, die ihre Eltern nie gemacht haben. 

In diesem Zusammenhang drängt sich mir ein Satz des Arztes, Philosophen, Theologen und Friedensnobelpreisträgers Albert Schweitzer geradezu auf: „Du bist so jung wie deine Zuversicht, so alt wie deine Zweifel.“

Klar, dem kann man entgegenhalten, Optimismus in finstren Zeiten sei nichts anderes als ein Indiz für Intelligenzverfettung. Dies mag zutreffen, wenn Optimismus gepaart mit Naivität daherkommt. Aber Optimisten sind nicht per se naiv. Jedenfalls dann nicht, wenn sie Probleme klar erkennen und dennoch glauben, dass sie lösbar sind. Keine noch so große und unglaubliche Erfindung der Menschheit wäre ohne diese Haltung zustande gekommen. Und wenn die ganze Welt sagte, das geht nicht, fühlten diese Optimisten sich getrieben, es hinzukriegen. 

In einem halbwegs glücklichen Leben verstecken sich Optimismus und Zuversicht kaum noch vor uns. Darum sollten wir es angehen, das glückliche Leben. Gerade jetzt. Das hat mich die Harvard-Studie gelehrt. Ich glaube, am sichersten gelingt es, wenn wir anderen zu etwas mehr Glück verhelfen. Wenn wir anschließend in ihre Augen blicken, sehen wir die Quittung. Und die macht glücklich.

Eine ganz normale Frage?

Gastkolumne in OM-Medien am 7. Dezember

Es gibt Fragen, die kommen wie Gaffer daher. Sie sind so unangenehm wie jemand, der einem bis in die Umkleidekabine folgt. Eine dieser Fragen taucht insbesondere im Advent in vielen Köpfen auf. Bei einigen Begegnungen schiebt sie sich ganz flott auf die Zunge, und manchmal rutscht sie einem dann einfach heraus. Schließlich möchte man von seinem Gegenüber doch gerne wissen: „Und was machst du so an Weihnachten?“ 

Menschen, die sich auf diese Tage freuen, mag die Frage völlig normal und unverfänglich erscheinen. Ganz anders kommt sie jedoch bei denen an, die mit Beklemmung an solch stimmungsreiche Zeit denken. Sie wittern, dass sie mit ihrer Antwort eine Menge über sich preisgeben. Unter Umständen sogar mehr als gegenüber dem eigenen Spiegelbild. Wie auch immer sie es formulieren, es wird herauszuhören sein, ob ihnen Familie Heimathafen oder nichts als Qualverwandtschaft bedeutet. Ob Geschwister sich miteinander verbunden fühlen, oder ob zwischen ihnen längst Gleichgültigkeit herrscht. Oder ob die, deren Nähe man unterm Weihnachtsbaum ersehnt, nur noch in liebenden Erinnerungen leben. 

Weihnachten gilt als das Fest der Liebe. Aber was ist, wenn ausgerechnet sie zu wenig spürbar ist? Wenn im Licht der Kerzen allzu deutlich sichtbar wird, was an 364 Tagen übersehen, ignoriert, kritisiert, in Grund und Boden geschrien, verraten und vergessen wurde. Wer nur noch das betrachtet, sieht im Fest der Liebe nichts als einen Schaden am Tradionsgetriebe. Doch solches Ignorieren, Vergessen und Verraten passiert uns allen. Es ist hässlich und unter Umständen kaum auszuhalten. – Das ist Leben. 

Ja, und dann gibt es da noch die „Heilige Familie“ in der Krippe unterm Weihnachtsbaum. Heile ist allerdings auch bei ihr nichts. Mit etwa 14 Jahren bekommt Maria ein uneheliches Kind. „Nicht von mir“, meint Josef, ihr Verlobter. Er ist drauf und dran, sich aus dem Staub zu machen. Letztlich bleibt er, weil ein Engel ihn im Traum mit aller Überzeugungskraft bearbeitet hat.  

Und auch all die anderen Familiengeschichten aus der Bibel haben es in sich. Sie sind alles andere als Kuschelprosa. Da geht es um Geschwister, die einander nach dem Leben trachten, um Erbschleicher, um Väter, die ihre Söhne verraten, um ruhmsüchtige und eifersüchtige Typen.

Es gab und gibt also jede Menge zu bejammern. Aber man kann sich auch in Erinnerung rufen, was Weihnachten gefeiert wird: die Geburt Jesu, die Geburt des Christentums. Letzteres lehrt uns: Wir alle sind brillante Scheiterer. – Wenn wir uns das vor Augen halten, kann Weihnachten nur gelingen. Denn jedes völlig falsche Wort unterm Tannenbaum, jeder Rotweinfleck auf der Decke, jede vergeblich erwartete SMS, jede blöde Bemerkung und jede falsch geschätzte Pullovergröße, all das gehört zur Feier des Menschseins. Denn das Menschsein ist keine Sache des Seins, sondern eine des Werdens.

Von schönen und von satanischen Seelen

Gastkolumne in OM-Medien am 2. November

Ich weiß nicht mehr, wann ich sie zum ersten Mal sah. Es muss vor über zehn Jahren gewesen sein. An einem Herbstabend entdeckte ich sie auf dem Weg ins Haus. Sie stand vor den Stämmen einer alten Kiefer. Wie angewurzelt muss ich gewirkt haben, als ich sie dort erblickte. Dabei war es nicht allein ihre Schönheit, die mich festhielt. Es war ihr rätselhaftes Auftauchen. Mit absoluter Sicherheit konnte ich sagen, dass diese Rose mit ihrer exorbitant roten Blüte bisher nicht dort gestanden hatte. Irgendjemand musste sie heimlich vor der Haustür eingepflanzt haben. Aber wer?

Im Laufe der Jahre habe ich einige Freunde und Bekannte darauf angesprochen, doch bis heute ist dieses Geschenk ein Rätsel. Klar ist mir nur, der Spender oder die Spenderin ist nicht auf ein Dankeschön aus. Er oder sie wollte nur eines: erfreuen.

Manchmal versuche ich mir auszumalen, was für ein Wesen dieser Mensch haben mag. Nicht nur am heutigen Allerseelentag frage ich mich, ob er überhaupt noch lebt. Falls nicht, seine gewiss schöne Seele ist keineswegs tot. In mir blüht sie ganz lebendig rot. Immer mal wieder.

Ganz anders verhält es sich mit dem Geschenk, das der Amerikaner John Dreher bekommen hat. Völlig unerwartet kriegte er kürzlich einen Scheck über eine Million US-Dollar in die Hand gedrückt. Von Elon Musk. Der gilt als reichster Mann der Welt. Sein Name steht für den Autokonzern Tesla und das Raketen- und Satellitenunternehmen SpaceX. 

Der Unterschied zwischen John Dreher und mir ist: Der Amerikaner weiß genau, bei wem er sich wie zu revanchieren hat. Er muss bei der US-Wahl nur sein Kreuzchen vor den Namen des Republikaners Donald Trump setzen, denn auf den fährt Musk so heiß ab wie seine Raketen ins All steigen. Dreher macht das gern, und Musk weiß, dass auch andere Amerikaner gern mit einem Scheck in der Hand vor ihm zu Kreuze kriechen würden. Darum spendiert dieser mephistophelische Weihnachtsmann schon seit Wochen eine Million US-Dollar für den unguten Zweck. Tag für Tag. 

Apropos Weihnachten: In den letzten Tagen des Advent wird immer wieder deutlich, wie schwer es ganz normalen Menschen fällt, zu schenken. Oft ist dann zu hören: „Ich muss unbedingt noch was für Weihnachten besorgen.“ Ich finde, dieser Satz verrät einen Fehler im System, denn „brauchen“ im Sinne von „benötigen“ ist das falsche Wort, wenn es um Geschenke geht. Am ehesten treffen sie ins Schwarze, wenn sie freiwillig und von Herzen kommen. Dennoch karrt so mancher Schenkende vor Weihnachten mühselig viel mehr zusammen, als ihm lieb ist. 

Dazu fällt mir ein Satz von Anselm Grün ein. In seiner so typisch ungedrechselten Art sagt der Benediktinermönch, ohne es verallgemeinern zu wollen: „Wer viel gibt, der braucht auch viel.“ Er will damit sagen, dass manche, die viel geben, viel Anerkennung, Lob, Zuwendung, Liebe brauchen. „Doch wenn ich gebe, weil ich brauche“, sagt Anselm Grün, „bekomme ich nie, was ich brauche. Es ist immer zu wenig.“

Wer häufig gern gibt, weil er gern Freude bereitet, tut gut daran, das Nehmen nicht zu vergessen. Ich denke dabei an eine Frau, bei der sämtliche Leute ihre Probleme abladen. Wenn es ihr mal nicht gut geht, leidet sie darunter, dass niemand ihr ein offenes Ohr schenkt. Aber sie gibt zu, dass es ihr schwer fällt, darum zu bitten. 

Mir zeigt das, dass Nehmen ebenso wichtig ist wie Geben. Denn auf Dauer können wir nur etwas geben, wenn wir ausreichend genommen haben. Wer nur gibt, wird leer. Und wer ständig nur nimmt, verschluckt sich daran.

Wir sollten es feiern

Gastkolumne in OM-Medien am 28. September

Es war ein Herbstmorgen, kurz vor vier, A1 Richtung Osnabrück. Auf der rechten Spur Lkw an Lkw. Wie eine Lichterkette glitten sie durch die Dunkelheit. Kein Unheil ahnend gab ich Gas, zog links vorbei. Ein kurzer Blick auf den Tacho: „140“ stand da. Schnell, aber nicht zu schnell, dachte ich. Vorne war ja alles frei. Doch schon im nächsten Moment zwei glänzende Punkte. Direkt vor mir. Sogleich eine schreckliche Ahnung: Das könnten Augen sein. Dann nur noch Lärm und Erschütterung. Glassplitter flogen mir ins Gesicht. Sekunden danach begriff ich, dass ich tatsächlich noch lebte und nicht einmal verletzt war. Ein Polizist sagte mir später, dass ein Bulle (kein Kollege) breitseits auf der Überholspur gestanden habe. Mir schoss Dank durch Kopf und Glieder. 

Religiöse Menschen danken dem Himmel, Ungläubige dem Leben. Wem wir danken, spielt jedoch eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist, dass wir uns überhaupt bedanken können. Das Wunderbare ist nämlich, während wir Dankbarkeit empfinden, bringt unser Geist es nicht fertig, sich unentwegt an Problemen festzubeißen. Er hat Schöneres zu tun. Und bei der Vorstellung, dass im Nu alles vorbei sein kann, nimmt er wahr, was er meistens übersieht. Die alltäglichen Kleinigkeiten: das fröhliche Gesicht des Paketzustellers, die warme Dusche am Morgen oder den jungen Kurden, der hinter mir her hetzte, als ich vom Gelände der Tankstelle fahren wollte. Er schob mir meine Kreditkarte durchs Seitenfenster. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie mir an der Kasse auf den Boden gefallen war. Als ich mich bedankte, meinte er: „Ist doch selbstverständlich.“

Genau das ist es nicht. Und so will ich es auch nicht verstehen, denn das würde mir den Blick auf das Gute vernebeln. 

Als die Türme des World Trade Center eingestürzt waren, machten US-Psychologen eine erstaunliche Feststellung. Sie berichten, dass viele Menschen noch Monate später mehr Dankbarkeit empfanden als zuvor. Als hätte die schlagartige Begegnung mit dem Bösen ihren Blick für das Gute geschärft.

Angesichts einer beängstigenden Diagnose oder inmitten einer schweren Krise  Dankbarkeit aufzubringen, ist kaum möglich. Dazu anzuraten, wäre zynisch. Es kann auch nicht das Ziel sein, jeden Verlust und alles Verbockte durch die rosarote Brille zu betrachten. Wer das tut, versucht, Negatives unter den Teppich der Dankbarkeit zu kehren. Doch auf diese Weise wird niemand so wichtigen Gefühlen wie Trauer und Wut gerecht. 

Dennoch: Wissenschaftlich erwiesen ist, dass dankbare Menschen glücklicher, optimistischer und hilfsbereiter sind. Und somit sind sie das Schmieröl sozialer Beziehungen. 

Manchmal habe ich den Eindruck, dass es Menschen, denen es materiell nicht so gut geht, leichter fällt, Dank zu zeigen. Vielleicht liegt es daran, dass Sie ihre Abhängigkeit stärker fühlen als andere. Wer wirtschaftlich auf sicherem Boden steht, versucht, jede Abhängigkeit zu bekämpfen. Aber vielleicht wäre es sinnvoller, sich bewusst zu sagen, dass wir alle Empfangende sind.

Aus dem Gefängnis der Gestapo schrieb der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer einen Brief an seine Eltern. Ein Satz daraus geht mir unter die Haut: „Im normalen Leben wird einem oft gar nicht bewusst, dass der Mensch unendlich viel mehr empfängt, als er gibt, und dass Dankbarkeit das Leben erst reich macht.“

Wir sollten dankbar feiern, dass wir viel, ja, sehr viel zu verlieren haben.