Eine ganz normale Frage?

Gastkolumne in OM-Medien am 7. Dezember

Es gibt Fragen, die kommen wie Gaffer daher. Sie sind so unangenehm wie jemand, der einem bis in die Umkleidekabine folgt. Eine dieser Fragen taucht insbesondere im Advent in vielen Köpfen auf. Bei einigen Begegnungen schiebt sie sich ganz flott auf die Zunge, und manchmal rutscht sie einem dann einfach heraus. Schließlich möchte man von seinem Gegenüber doch gerne wissen: „Und was machst du so an Weihnachten?“ 

Menschen, die sich auf diese Tage freuen, mag die Frage völlig normal und unverfänglich erscheinen. Ganz anders kommt sie jedoch bei denen an, die mit Beklemmung an solch stimmungsreiche Zeit denken. Sie wittern, dass sie mit ihrer Antwort eine Menge über sich preisgeben. Unter Umständen sogar mehr als gegenüber dem eigenen Spiegelbild. Wie auch immer sie es formulieren, es wird herauszuhören sein, ob ihnen Familie Heimathafen oder nichts als Qualverwandtschaft bedeutet. Ob Geschwister sich miteinander verbunden fühlen, oder ob zwischen ihnen längst Gleichgültigkeit herrscht. Oder ob die, deren Nähe man unterm Weihnachtsbaum ersehnt, nur noch in liebenden Erinnerungen leben. 

Weihnachten gilt als das Fest der Liebe. Aber was ist, wenn ausgerechnet sie zu wenig spürbar ist? Wenn im Licht der Kerzen allzu deutlich sichtbar wird, was an 364 Tagen übersehen, ignoriert, kritisiert, in Grund und Boden geschrien, verraten und vergessen wurde. Wer nur noch das betrachtet, sieht im Fest der Liebe nichts als einen Schaden am Tradionsgetriebe. Doch solches Ignorieren, Vergessen und Verraten passiert uns allen. Es ist hässlich und unter Umständen kaum auszuhalten. – Das ist Leben. 

Ja, und dann gibt es da noch die „Heilige Familie“ in der Krippe unterm Weihnachtsbaum. Heile ist allerdings auch bei ihr nichts. Mit etwa 14 Jahren bekommt Maria ein uneheliches Kind. „Nicht von mir“, meint Josef, ihr Verlobter. Er ist drauf und dran, sich aus dem Staub zu machen. Letztlich bleibt er, weil ein Engel ihn im Traum mit aller Überzeugungskraft bearbeitet hat.  

Und auch all die anderen Familiengeschichten aus der Bibel haben es in sich. Sie sind alles andere als Kuschelprosa. Da geht es um Geschwister, die einander nach dem Leben trachten, um Erbschleicher, um Väter, die ihre Söhne verraten, um ruhmsüchtige und eifersüchtige Typen.

Es gab und gibt also jede Menge zu bejammern. Aber man kann sich auch in Erinnerung rufen, was Weihnachten gefeiert wird: die Geburt Jesu, die Geburt des Christentums. Letzteres lehrt uns: Wir alle sind brillante Scheiterer. – Wenn wir uns das vor Augen halten, kann Weihnachten nur gelingen. Denn jedes völlig falsche Wort unterm Tannenbaum, jeder Rotweinfleck auf der Decke, jede vergeblich erwartete SMS, jede blöde Bemerkung und jede falsch geschätzte Pullovergröße, all das gehört zur Feier des Menschseins. Denn das Menschsein ist keine Sache des Seins, sondern eine des Werdens.

Von schönen und von satanischen Seelen

Gastkolumne in OM-Medien am 2. November

Ich weiß nicht mehr, wann ich sie zum ersten Mal sah. Es muss vor über zehn Jahren gewesen sein. An einem Herbstabend entdeckte ich sie auf dem Weg ins Haus. Sie stand vor den Stämmen einer alten Kiefer. Wie angewurzelt muss ich gewirkt haben, als ich sie dort erblickte. Dabei war es nicht allein ihre Schönheit, die mich festhielt. Es war ihr rätselhaftes Auftauchen. Mit absoluter Sicherheit konnte ich sagen, dass diese Rose mit ihrer exorbitant roten Blüte bisher nicht dort gestanden hatte. Irgendjemand musste sie heimlich vor der Haustür eingepflanzt haben. Aber wer?

Im Laufe der Jahre habe ich einige Freunde und Bekannte darauf angesprochen, doch bis heute ist dieses Geschenk ein Rätsel. Klar ist mir nur, der Spender oder die Spenderin ist nicht auf ein Dankeschön aus. Er oder sie wollte nur eines: erfreuen.

Manchmal versuche ich mir auszumalen, was für ein Wesen dieser Mensch haben mag. Nicht nur am heutigen Allerseelentag frage ich mich, ob er überhaupt noch lebt. Falls nicht, seine gewiss schöne Seele ist keineswegs tot. In mir blüht sie ganz lebendig rot. Immer mal wieder.

Ganz anders verhält es sich mit dem Geschenk, das der Amerikaner John Dreher bekommen hat. Völlig unerwartet kriegte er kürzlich einen Scheck über eine Million US-Dollar in die Hand gedrückt. Von Elon Musk. Der gilt als reichster Mann der Welt. Sein Name steht für den Autokonzern Tesla und das Raketen- und Satellitenunternehmen SpaceX. 

Der Unterschied zwischen John Dreher und mir ist: Der Amerikaner weiß genau, bei wem er sich wie zu revanchieren hat. Er muss bei der US-Wahl nur sein Kreuzchen vor den Namen des Republikaners Donald Trump setzen, denn auf den fährt Musk so heiß ab wie seine Raketen ins All steigen. Dreher macht das gern, und Musk weiß, dass auch andere Amerikaner gern mit einem Scheck in der Hand vor ihm zu Kreuze kriechen würden. Darum spendiert dieser mephistophelische Weihnachtsmann schon seit Wochen eine Million US-Dollar für den unguten Zweck. Tag für Tag. 

Apropos Weihnachten: In den letzten Tagen des Advent wird immer wieder deutlich, wie schwer es ganz normalen Menschen fällt, zu schenken. Oft ist dann zu hören: „Ich muss unbedingt noch was für Weihnachten besorgen.“ Ich finde, dieser Satz verrät einen Fehler im System, denn „brauchen“ im Sinne von „benötigen“ ist das falsche Wort, wenn es um Geschenke geht. Am ehesten treffen sie ins Schwarze, wenn sie freiwillig und von Herzen kommen. Dennoch karrt so mancher Schenkende vor Weihnachten mühselig viel mehr zusammen, als ihm lieb ist. 

Dazu fällt mir ein Satz von Anselm Grün ein. In seiner so typisch ungedrechselten Art sagt der Benediktinermönch, ohne es verallgemeinern zu wollen: „Wer viel gibt, der braucht auch viel.“ Er will damit sagen, dass manche, die viel geben, viel Anerkennung, Lob, Zuwendung, Liebe brauchen. „Doch wenn ich gebe, weil ich brauche“, sagt Anselm Grün, „bekomme ich nie, was ich brauche. Es ist immer zu wenig.“

Wer häufig gern gibt, weil er gern Freude bereitet, tut gut daran, das Nehmen nicht zu vergessen. Ich denke dabei an eine Frau, bei der sämtliche Leute ihre Probleme abladen. Wenn es ihr mal nicht gut geht, leidet sie darunter, dass niemand ihr ein offenes Ohr schenkt. Aber sie gibt zu, dass es ihr schwer fällt, darum zu bitten. 

Mir zeigt das, dass Nehmen ebenso wichtig ist wie Geben. Denn auf Dauer können wir nur etwas geben, wenn wir ausreichend genommen haben. Wer nur gibt, wird leer. Und wer ständig nur nimmt, verschluckt sich daran.

Wir sollten es feiern

Gastkolumne in OM-Medien am 28. September

Es war ein Herbstmorgen, kurz vor vier, A1 Richtung Osnabrück. Auf der rechten Spur Lkw an Lkw. Wie eine Lichterkette glitten sie durch die Dunkelheit. Kein Unheil ahnend gab ich Gas, zog links vorbei. Ein kurzer Blick auf den Tacho: „140“ stand da. Schnell, aber nicht zu schnell, dachte ich. Vorne war ja alles frei. Doch schon im nächsten Moment zwei glänzende Punkte. Direkt vor mir. Sogleich eine schreckliche Ahnung: Das könnten Augen sein. Dann nur noch Lärm und Erschütterung. Glassplitter flogen mir ins Gesicht. Sekunden danach begriff ich, dass ich tatsächlich noch lebte und nicht einmal verletzt war. Ein Polizist sagte mir später, dass ein Bulle (kein Kollege) breitseits auf der Überholspur gestanden habe. Mir schoss Dank durch Kopf und Glieder. 

Religiöse Menschen danken dem Himmel, Ungläubige dem Leben. Wem wir danken, spielt jedoch eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist, dass wir uns überhaupt bedanken können. Das Wunderbare ist nämlich, während wir Dankbarkeit empfinden, bringt unser Geist es nicht fertig, sich unentwegt an Problemen festzubeißen. Er hat Schöneres zu tun. Und bei der Vorstellung, dass im Nu alles vorbei sein kann, nimmt er wahr, was er meistens übersieht. Die alltäglichen Kleinigkeiten: das fröhliche Gesicht des Paketzustellers, die warme Dusche am Morgen oder den jungen Kurden, der hinter mir her hetzte, als ich vom Gelände der Tankstelle fahren wollte. Er schob mir meine Kreditkarte durchs Seitenfenster. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie mir an der Kasse auf den Boden gefallen war. Als ich mich bedankte, meinte er: „Ist doch selbstverständlich.“

Genau das ist es nicht. Und so will ich es auch nicht verstehen, denn das würde mir den Blick auf das Gute vernebeln. 

Als die Türme des World Trade Center eingestürzt waren, machten US-Psychologen eine erstaunliche Feststellung. Sie berichten, dass viele Menschen noch Monate später mehr Dankbarkeit empfanden als zuvor. Als hätte die schlagartige Begegnung mit dem Bösen ihren Blick für das Gute geschärft.

Angesichts einer beängstigenden Diagnose oder inmitten einer schweren Krise  Dankbarkeit aufzubringen, ist kaum möglich. Dazu anzuraten, wäre zynisch. Es kann auch nicht das Ziel sein, jeden Verlust und alles Verbockte durch die rosarote Brille zu betrachten. Wer das tut, versucht, Negatives unter den Teppich der Dankbarkeit zu kehren. Doch auf diese Weise wird niemand so wichtigen Gefühlen wie Trauer und Wut gerecht. 

Dennoch: Wissenschaftlich erwiesen ist, dass dankbare Menschen glücklicher, optimistischer und hilfsbereiter sind. Und somit sind sie das Schmieröl sozialer Beziehungen. 

Manchmal habe ich den Eindruck, dass es Menschen, denen es materiell nicht so gut geht, leichter fällt, Dank zu zeigen. Vielleicht liegt es daran, dass Sie ihre Abhängigkeit stärker fühlen als andere. Wer wirtschaftlich auf sicherem Boden steht, versucht, jede Abhängigkeit zu bekämpfen. Aber vielleicht wäre es sinnvoller, sich bewusst zu sagen, dass wir alle Empfangende sind.

Aus dem Gefängnis der Gestapo schrieb der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer einen Brief an seine Eltern. Ein Satz daraus geht mir unter die Haut: „Im normalen Leben wird einem oft gar nicht bewusst, dass der Mensch unendlich viel mehr empfängt, als er gibt, und dass Dankbarkeit das Leben erst reich macht.“

Wir sollten dankbar feiern, dass wir viel, ja, sehr viel zu verlieren haben.

Tag versaut

Gastkolumne in OM-Medien am 24. August

Es ist Vormittag. Ein Mann ruft seine Frau an. Sofort hört sie an seiner Stimme, dass etwas im Busch ist. Sie fragt, was er habe, aber ihr Mann rückt nicht mit der Sprache heraus. Als sie nachhakt, vertröstet er sie auf den Feierabend. Bevor er auflegt, sagt er nur: „Mach dir schon mal Sorgen.“ Das macht sie. Den ganzen lieben langen Tag, bis zum Abend. – Ein jüdischer Witz, der die Sorgen an den Pranger stellt. Denn viele Sorgen kippen nur ihre dunkle Brühe über Menschen aus und halten sie davon ab zu leben. 

Es gibt so viele Gründe, sich Sorgen zu machen: Kommen genug Leute zu meinem Fest? Kommt mein Vortrag an? Was wird das Ergebnis meiner Darmspiegelung sein? Sorgenvolle Fragen, die den schönsten Tag versauen können, schlimmstenfalls auch die Nacht. Im Nachhinein erweisen sich viele Sorgen als ziemlich dämlich. Dennoch waren sie wirkungsvoll. Sie haben alle Leichtigkeit geraubt und Schwere hinterlassen.

In diesem Jahr, so kommt es mir vor, ist die Leichtigkeit nahezu weltweit zu einer vom Aussterben bedrohten Art geworden. Viele versuchen, etwas dagegen zu tun. Sie ignorieren einfach alles, was ihnen Leichtigkeit rauben könnte. Verbreitete Maßnahme ist es, den Politikteil der Zeitung weit weg zu legen, denn darin stecken Wörter wie Ukraine, Klima, Gaza, USA und Russland, lauter Killer der Leichtigkeit. Wer all diese Themen meidet, tut es vielleicht, um auf seine seelische Gesundheit zu achten. Das Dumme ist nur, Vermeidung funktioniert kurzfristig durchaus, langfristig lähmt sie und führt letztlich zum völligen Rückzug. Ja, und auch zur Depression. 

Sigmund Freud war ja nicht nur ein Meister der Tiefsinnigkeit. Der Begründer der Psychoanalyse sah im Humor das ganz besondere Rezept, mit dem Leben klarzukommen, denn, so schrieb er 1927: „Der Humor ist nicht resignativ, er ist trotzig.“ Mittelpunkt seiner Überlegungen war folgender Witz: Ein Verbrecher, der am Montag zum Galgen geführt wird, sagt: „Die Woche fängt ja gut an.“ „Der Humor will sagen“, so Freud, „sieh her, das ist nun die Welt, die so gefährlich aussieht. Ein Kinderspiel, gerade gut, einen Scherz darüber zu machen.“

Besonders in lähmender Zeit fallen mir immer mehr die auf, die regelmäßig vorangehen und einfach etwas tun. Zum Beispiel die Männer, die betagte Menschen aus dem Altenheim regelmäßig in Rikschas durch südoldenburgische Landschaften fahren. Frauen und Männer, die Menschen aus Afghanistan, Syrien oder der Ukraine ganz privat die deutsche Sprache vermitteln. Oder auch eine wie die Cloppenburgerin Maria Thien, die mit ihrer Initiative „Kleiner Stern“ seit nun schon 25 Jahren Licht im Leben herz- und krebskranker Kinder leuchten lässt. 

Niemand von ihnen wird die großen aktuellen Krisen beenden beziehungsweise durchgeknallte Despoten menschlich machen, aber sie alle drehen an den kleinen Rädern menschlicher Geschichte. Für sie kommt es nicht infrage, den Verrücktheiten ihrer Zeit gelähmt zuschauen und auch nicht, ihre Wut und Ohnmacht zu verbreiten. Mit beherztem Engagement ziehen sie es vor, sich als Friedensfürstinnen und -fürsten hungernder Seelen zu üben. Ihr Ding ist es, Dinge zu ändern, die man ändern kann, und jene hinzunehmen, die ändern zu wollen vergeblich und überheblich ist. Eine Geisteshaltung wie diese zieht mich mehr und mehr an.

Auf geheimen Wegen

Gastkolumne in OM-Medien am 20. Juli

Ich habe überhaupt nichts gegen Geheimnisse. Jeder sollte eins haben. Meinetwegen auch zwei oder drei. Da bin ich tolerant. Jedenfalls so gut wie immer. Bin ich allerdings mit Auto oder Rad unterwegs, kommt sie mir abhanden, meine Toleranz. Sie gibt dann plötzlich Gas und macht sich von der Piste. Mir ist auch klar, warum: Für ihren Geschmack sind es einfach viel zu viele Geheimniskrämer, die auf deutschen Straßen unterwegs sind. Lauter Menschen, die verheimlichen, ob sie im nächsten Moment links oder rechts abbiegen wollen. Nicht, dass die keinen Blinker beziehungsweise intakten Arm hätten. Haben sie. Allerdings auch ihr Geheimnis. Und das hütet laut ADAC jeder dritte Autofahrer. Mindestens.

Was all diese Fahrerinnen und Fahrer uns von sich verraten, ist nichts als ein Vielleicht. Vielleicht fahren sie geradeaus. Vielleicht auch nicht. Da ich dagegen nichts tun kann, sehe ich gespannt meinem nächsten Überholmanöver entgegen. Stelle mir vor, links rüber zu ziehen. Vom Gegenverkehr droht keine Gefahr, noch ist er ja winzig wie ein Stecknadelkopf. Mit Blick auf die rechte Spur muss ich jedoch mit allem rechnen. Dort ist zwar kein Blinken zu entdecken, aber was heißt das schon?! 

Ich gebe Gas. Meine Augen gehen jetzt getrennte Wege. Mein linkes klebt auf dem, was sich vor mir nähert, mein rechtes auf den Autos, die hoffentlich dort bleiben, wo sie sind: rechts. Mir ist klar, dass mich dieser Schielblick ziemlich wenig attraktiv aussehen lässt. Aber egal, mich sieht ja keiner. Was mir auffällt, ist, dass ich in solchen Momenten doch tatsächlich Sympathie für Menschen entdecke, die sich am rechten Rand befinden und dort bleiben. Doch immer dann fängt in meinem Kopf etwas an zu blinken. Es ist das Wort „vielleicht“. Vielleicht zieht von rechts doch noch einer links rüber. Vielleicht geht alles gut. 

Manchmal weiß ich nicht so recht, was ich von diesem Vielleicht halten soll. Es hat halt so unterschiedliche Gesichter. Wenn zum Beispiel ein Neuer in einen Verein kommt, um mal hineinzuschnuppern, und man ihn einlädt, einzutreten, lautet die Antwort allzu oft: „Vielleicht.“ Auch wenn ich einen Handwerker bitte, meinen Dachschaden möglichst noch vor dem nächsten Regen zu beheben, muss ich mich auf ein Vielleicht einstellen. Was dann bleibt, ist der schale Eindruck, dass jemand sich nicht festlegen will. Auf ihn ist ebenso wenig Verlass wie auf notorische Nichtblinker. Aber wo Verlässlichkeit fehlt, entsteht und hält keine Beziehung.

Doch im Wort “vielleicht“ steckt nicht nur Schlechtes. Es besteht ja aus zwei Wörtern: aus „viel“ und aus „leicht“. Somit bedeutet „vielleicht“,  dass etwas mit viel Leichtheit, also sehr leicht möglich ist. Und das kann mich durchaus positiv in Spannung versetzen. Zum Beispiel dann, wenn ich mir sage, dass vielleicht schon heute das Paket ankommt, auf das ich mich schon seit Tagen freue. „Vielleicht“ hat also auch die Kraft, Hoffnung zu spendieren.

Und ja, ich glaube, ich kann sie schon spüren, diese Hoffnung darauf, dass es jetzt bei ein paar Nichtblinkern anfängt zu blinken. Das wünsche ich mir nicht nur für mich, auch für sie. Denn es lohnt sich nicht, sich mit Geheimnissen in den Verkehr zu wagen. Es sei denn, man sagt sich, dass Geheimnisse am sichersten bei Toten bewahrt sind.

Empört euch!

Gastkolumne in OM-Medien am 8. Juni

Später Nachmittag. Eine 39-jährige Geschäftsfrau betritt den Vorraum einer Bankfiliale. Eine Sicherheitskamera dokumentiert, was nun geschieht: Die Frau bleibt stehen. Eine Sekunde lang schaut sie auf den ausgestreckten Körper eines Mannes, der mitten im Raum liegt. Forsch schlängelt sie sich nah am Kopf des Mannes vorbei zum Automaten. Dort erledigt sie ihre Bankgeschäfte, wirft zwei, drei Blicke auf den Mann am Boden. Die Kamera dokumentiert auch den Elan, mit dem sie zwei Minuten später die Bank verlässt. Sie wirft keinen Blick zurück. Nach ihr kommen einzeln noch drei weitere Kunden. Keiner kümmert sich. Erst ein vierter ruft den Notarzt.

Ein paar Minuten zuvor war der 83-Jährige gestürzt und mit dem Kopf auf dem Fliesenboden aufgeschlagen. Eine Woche später stirbt er.

Dies hat sich in Essen-Borbeck zugetragen, könnte aber überall passieren. Es ist eines von vielen Beispielen himmelschreiender Gleichgültigkeit und Ignoranz. 

Das Wort „Gleichgültigkeit“ hat es in sich. Mit seinen Bestandteilen „gleich“ und „gültig“ zeigt es, dass zwei verschiedene Dinge als gleichermaßen gültig betrachtet werden. Das mag im ersten Moment harmlos klingen, ist es aber nicht. Die Frau in der Bankfiliale hat die Möglichkeiten des Überlebens und des Sterbens eines am Boden Liegenden mit gleicher Gültigkeit betrachtet. So bekommt Gleichgültigkeit etwas Entmenschlichendes. 

Wir alle kennen Beispiele für eigene Gleichgültigkeit, und wir haben Ausreden dafür. Ebenso für unser Nichtstun, wenn Situationen nach Einschreiten oder Widerspruch schreien. Aber wer seine Gleichgültigkeit nicht bekämpft, erstickt eigenes Mitgefühl. So bekommt die Seele Hornhaut. Das Fatale an der Gleichgültigkeit ist: Sie ist von strafrechtlicher Relevanz, denn die Hemmschwelle, Straftaten zu begehen, wird durch mangelndes Mitgefühl sehr niedrig. 

Wer sich in der Literatur mit der Gleichgültigkeit beschäftigt, stößt schnell auf  den französischen Diplomaten, Lyriker und Essayisten Stéphane Hessel. Er kämpfte im Widerstand und überlebte das KZ Buchenwald. 2010 veröffentlichte er mit 93 Jahren einen Essay mit dem Titel „Empört euch!“. Innerhalb von vier Monaten wurden über eine Million Exemplare des Werkes verkauft. Hessel verzichtete auf sein Honorar. Er schrieb den Text als Gegengift zur Gleichgültigkeit, indem er zu einer engagierten Lebenshaltung, zu gewaltloser Revolte und zivilem Ungehorsam aufrief. Seine Überzeugung lautete, „das Schlimmste, was man sich und der Welt antun“ könne, sei die Gleichgültigkeit gegenüber politischen Verhältnissen.

„Neues schaffen heißt, Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt, Neues schaffen“, so das Credo dieses großen alten Mannes. Er formulierte es für eine lebenswerte Zukunft. Sein Aufruf kann gar nicht laut genug erklingen, denn aktuelle Allensbach-Umfragen zeigen,  dass die Mehrheit der Deutschen mit Neuem wenig im Sinn hat. 56 Prozent der Befragten sagen, sie würden lieber in der Vergangenheit als in der Zukunft leben. 

Solche Stimmen sind Musik in den Ohren rechter Populisten, die uns ein nostalgisch verklärtes Gestern einbimsen und eine Zukunft frei von Zumutungen versprechen – nach dem Motto: Ihr dürft so bleiben, wie ihr seid. Doch das klappte noch nie. In keiner Epoche.

Deutschland und Europa können nicht bleiben, wie sie sind. Nicht, dass sie, wie der Mann in der Bank, zusammengebrochen wären. Sie sind angeschlagen. Aber in ihren Adern fließt das Blut der Demokratie. Wer sich jetzt bei der Wahl nicht für diese zwei Patienten stark macht, überlässt sie gleichgültig denen, denen die Würde des Menschen scheißegal ist.

Und dann das Unfassbare

Gastkolumne in OM-Medien am 27. April

Tausende um mich herum. Dicht gedrängt. Keiner sagt etwas. Weit und breit nichts als kollektiv starres Stieren nach vorne. So, als dürfte hier, vor dem Capitol in Washington, niemand verpassen, was im nächsten Moment geschehen soll. Dann Bewegung zwischen den mittleren Säulen des Portals. Donald Trump betritt eine Bühne. In deren Zentrum hält er inne. Die Luft fängt an zu brennen. Dann das Unfassbare: Dieser Mann geht auf die Knie. Und mit Blick auf seine gefalteten Hände sagte er: „Ich bin hier, um euch um Vergebung zu bitten und um Dank zu sagen. Meinen Dank an alle, die mir ihre Stimme verwehrt haben. Denn ihr seid es, die mich und die Nation vor mir geschützt haben.“

Mehr habe ich nicht mitbekommen. Mein Wecker bimmelte mich in den Wachzustand. Macht aber nichts, man kann ja auch hellwach weiterträumen. Zum Beispiel von Demut und Dankbarkeit. Ich weiß, zwei Begriffe, die heutzutage etwas verstaubt klingen. Wer demütig auf die Knie fällt, so die verbreitete Auffassung, knickt ein. Wer sich nie beugt, gewinnt jeden Kampf und wird von aufblickenden Heerscharen erhöht. 

Kniefälle sind nicht en vogue und gelten schon gar nicht als cool. Und doch gibt es einen Kniefall, der in besonderer Weise Geschichte gemacht hat. 1970 war der damalige Kanzler Willy Brandt nach Warschau gereist. Er wollte einen Vertrag zwischen Polen und Deutschland unterzeichnen. Außerdem war er gekommen, um einen Kranz am Ehrenmal des Warschauer Ghettos niederzulegen. Dann passierte es: Brandt fiel auf die Knie, faltete seine Hände. Keine halbe Minute lang, aber es war eine gefühlte Ewigkeit. Das war nicht geplant, aber es bewegte und überzeugte, wie nur eine Herzensangelegenheit es kann. 

Das zu tun, brauchte Mut. Und zwar den einer ganz bestimmten Art: Sie heißt Demut. Der Autor Tobias Hürter nennt dieses Verhalten in der Wochenzeitung „Die Zeit“ „eine große Geste, nicht weil Brandt sich selbst mit ihr groß machte, sondern weil er mit ihr auf etwas Größeres verwies.“

Das ist der Punkt. Brandt  konnte anerkennen, dass es etwas Größeres gibt als das eigene Ich. Und das waren für ihn die Millionen Morde seines eigenen Landes. Dies ist eine Fähigkeit, die derzeit vielen populistischen Emporkömmlingen auf den politischen Bühnen abgeht. Sie halten Demut für eine Untugend, die allenfalls blöd parierenden Schafen gut steht. Demut ist für sie mit Freiheit und Selbstbestimmung nicht unter einen Hut zu bringen. 

Doch wer demütig seinen Blick zum Boden richten kann, kann sich erden. So einer ist bereit, seine Stärken und Schwächen ebenso zu betrachten wie seine lichtvollen und dunklen Seiten. Er kann akzeptieren, dass die Welt sich nicht um ihn selbst dreht. Demut bedeutet dann, so Tobias Hürter, auf Distanz zu gehen zu den eigenen Zielen, Stärken und Ängsten. „Sie ist eine Art von Realismus. Ein Gegenkonzept zum Egozentrismus.“ Und somit ist Demut eine Voraussetzung für gelingende Gemeinschaft. In solch einem Umfeld kann Dankbarkeit wachsen. Sie zu haben, fühlt sich nicht einfach nur gut an. Sie bringt Menschen auch in Beziehung zu anderen. Und somit ist sie gesund für die Gesellschaft.

Zwei Zeilen mit hundsgemeiner Wucht

Gastkolumne in OM-Medien zum 16. März

Der Samstag hatte so verheißungsvoll begonnen. Dann, um 13.49 Uhr, meldet sich mein Handy. Per WhatsApp war eine Nachricht gekommen. Nur zwei Zeilen zeigten sich im Display. In ihrer Kürze steckte eine hundsgemeine Wucht. Es war, als schössen mir die Zeilen unvermittelt in die Kniekehlen. Sie sagten mir, dass Bernd am Morgen dieses Tages plötzlich gestorben sei. Augenblicklich sah ich vor meinem geistigen Auge, wie ich vier Tage zuvor mit ihm Musik gemacht hatte. Wie jeden Dienstagabend im Stapelfelder Parforce-Ensemble. Doch sogleich blitzte eine Prise Glück in mir auf, denn bei dieser Probe hatte ich ein paar Takte mehr als sonst mit ihm geredet. In diesem kurzen Gespräch war mir deutlich geworden, wie sehr ich seine stille Zugewandtheit, sein Lachen, seine Bescheidenheit liebte. 

Die Nachricht dieses Samstags lag tagelang wie ein staubgraues Laken über mir. Unter ihm verloren selbst Putin, Trump, Klimasorgen und Hamas ihre toxische Wirkung. Bernds Tod war in diesen Tagen giftiger. Wie ein Gegengift hätte es auf mich gewirkt, in sein lachendes Gesicht zu blicken. Es hätte mich zum Lachen gebracht. 

Aber wäre das angebracht gewesen? Während mir das durch den Kopf ging, stieß ich auf einen Beitrag im „Tagesspiegel“.  Darin wird der Arzt und Kabarettist Dr. Eckart von Hirschhausen gefragt, ob es zulässig sei, dem Tod mit Humor zu begegnen. Seine Antwort: „Fragen Sie mich im nächsten Leben nochmal.“ Hin und wieder wollten Journalisten von ihm wissen, was man an seinem Grab über ihn sagen solle. „Was man sagen soll? Ist doch klar: ,Oh, er bewegt sich noch.` Das wünsche ich mir“, sagt von Hirschhausen. „Außerdem möchte ich nicht im Gedenken der Menschheit weiterleben, sondern viel lieber in meiner Wohnung.“

Barbara Wild weiß, dass Humor hilft, schwere Themen auszusprechen und zu bewältigen. Die Tübinger Professorin ist Ärztin für Neurologie und befasst sich wissenschaftlich mit dem Thema Humor. In der „Zeit“ berichtet sie von ihren Humortrainings, in denen sie Teilnehmerinnen einen Stapel Cartoons vorlegt. Jede soll sich den herausziehen, den sie am witzigsten findet. Dabei fällt auf, dass die meisten zu einem Cartoon greifen, der mit ihnen selbst zu tun hat. Die Ärztin nennt ein Beispiel: Ein Bild zeigt eine ältere Dame, die auf dem Gipfel eines Berges im Rollstuhl sitzt. Hinter ihr eine jüngere Frau, die den Rollstuhl hält und denkt: „Manchmal muss man auch loslassen können.“ 

Aber was fand die Frau an diesem makabren Cartoon so erheiternd? Als sie es erklärte, „kamen ihr plötzlich die Tränen, und es brach förmlich aus ihr heraus“, sagt Barbara Wild. Die Frau erzählte, dass sie sich um ihre pflegebedürftige Mutter kümmern müsse und wie furchtbar belastend das sei. Im besten Fall, so die Ärztin, erinnere sich die Frau an das Bild, wenn sie das nächste Mal an der Pflege ihrer Mutter verzweifele und ihre negativen Gefühle etwas loslassen könne.

Überhaupt nicht makaber finde ich es, wenn ich beim Thema Humor an Hospize denke. Nicht zuletzt an das Cloppenburger Hospiz namens Wanderlicht. Dort herrscht keine Grabesstille. Oft wird dort musiziert, gesungen und gelacht. Möglich ist das, weil dort Ärzte und Pflegerinnen tätig sind, die den Tod nicht als Scheitern ihrer Profession ansehen. Für sie ist er Teil des Lebens, den sie begleiten und gestalten können. Wer das lachend leistet, wirkt entlastend. Nicht, indem er Probleme weglacht. Das klappt nicht. Aber wer sie mit Humor betrachtet, wechselt seine Perspektive. Das führt zu neuen Gedanken. Und dazu, das Leben augenzwinkernd ernst zu nehmen. 

Beziehungsstatus: Es ist kompliziert

Gastkolumne in OM-Medien zum 3. Februar

Sie lässt sich schlichtweg alles gefallen. Man kann ihr vorwerfen, Hass zu schüren, die Inflation voranzutreiben und sogar Kriege anzuzetteln – sie lässt jeden Schuldspruch über sich ergehen. Und das auf geradezu devote Weise. Aber es ist nicht richtig, ihr jeden Mist in die Schuhe zu schieben. Okay, hin und wieder loben wir sie auch übern grünen Klee. Zum Beispiel dann, wenn wir sagen, sie, die Zeit, heile alle Wunden. Aber auch das ist nicht richtig. Es ist sogar Unfug, denn die Zeit tut nichts. Sie ist einfach nur da, steht uns zur Verfügung. Jederzeit. Dennoch ist es gar nicht so leicht, liebevoll mit ihr anzubandeln. Befragt nach unserer Beziehung zur Zeit, müssten wohl die meisten sagen: Es ist kompliziert. Wie sehr das zutrifft, verrät schon das Wort „Zeitvertreib“. Es klingt, als wollten wir böse Geister vertreiben. 

Aber warum vertreiben, steckt doch in jedem Tag, jedem Moment ein ganz besonderes Flair: das der Unwiederbringlichkeit. Leider nehmen wir es nur selten wahr. Wenn wir die Geburt eines Kindes miterleben, wird das Flair einer neuen Zeit beeindruckend spürbar. Wenn wir einen geliebten Menschen sterben sehen, erwischt uns die ganze Wucht einer zu Ende gehenden Zeit mit ihrer Unwiederbringlichkeit.

Wer nicht den Verlust eines Menschen zu ertragen hat, spürt in dieser Zeit der Kriege und menschenverachtenden Naziparolen den Verlust jeglicher Sicherheit. Allerorts sucht man nach Worten für das aktuelle Geschehen und nennt es Zeitenwende. Mittlerweile habe ich etwas gegen diesen Begriff, denn er lähmt, weil er impliziert, dass die Zeit eh nur ihr eigenes Ding macht. Aber das ist ein Irrglaube. Halten wir an ihm fest, können wir kaum noch anders, als in Schockstarre zu fallen. Das wäre dann sinnlos vergeudete Zeit. 

Wenn ich nun sage, Dankbarkeit könnte eine belebende Alternative sein, klingt das vielleicht erstmal wie ein schlechter Witz. Aber danach ist mir nicht zumute. Jeder, der schon einmal schwer erkrankt war, kennt das Sehnen nach Genesung. In solchen Phasen wäre wohl jeder unendlich dankbar für Gesundheit. Im Alltag nehmen wir fast alles als selbstverständlich gegeben hin. Erst wenn etwas fehlt, erkennen wir glasklar dessen Wert.

Das sollten wir schleunigst ändern. In diesem noch so jungen Jahr sehe ich dazu eine prima Gelegenheit. Weil 2024 ein Schaltjahr ist, spendiert uns der Februar einen Tag mehr als sonst. Mein Vorschlag: ihn nicht mit noch mehr Aufgaben zu füllen und ihn einfach pflichtbesoffen zu schlucken. Ich stelle es mir belebend vor, diesen Tag (oder einen anderen) bewusst wie einen zu betrachten, der für uns von irgendeinem Stern gefallen ist. Es geht nicht darum, an diesem Tag die rosarote Brille aufzusetzen, sondern darum, uns auf wertvolle Kleinigkeiten im Alltag zu konzentrieren

 – auf das behaglich warme Zimmer, auf das Wunderwerk eines Schneekristalls oder auf das freundliche Lächeln eines Menschen, von dem wir nichts als Kritik erwartet haben. Oder wir könnten uns fragen, welche Menschen uns durch ihr Wesen bereichert haben. Ein Danke, das wir dann über die Lippen bringen, ist bestens verbrachte Zeit. Denn es wirkt wie ein Bindemittel in einer aus den Fugen geratenen sozialen Welt.