Tag versaut

Gastkolumne in OM-Medien am 24. August

Es ist Vormittag. Ein Mann ruft seine Frau an. Sofort hört sie an seiner Stimme, dass etwas im Busch ist. Sie fragt, was er habe, aber ihr Mann rückt nicht mit der Sprache heraus. Als sie nachhakt, vertröstet er sie auf den Feierabend. Bevor er auflegt, sagt er nur: „Mach dir schon mal Sorgen.“ Das macht sie. Den ganzen lieben langen Tag, bis zum Abend. – Ein jüdischer Witz, der die Sorgen an den Pranger stellt. Denn viele Sorgen kippen nur ihre dunkle Brühe über Menschen aus und halten sie davon ab zu leben. 

Es gibt so viele Gründe, sich Sorgen zu machen: Kommen genug Leute zu meinem Fest? Kommt mein Vortrag an? Was wird das Ergebnis meiner Darmspiegelung sein? Sorgenvolle Fragen, die den schönsten Tag versauen können, schlimmstenfalls auch die Nacht. Im Nachhinein erweisen sich viele Sorgen als ziemlich dämlich. Dennoch waren sie wirkungsvoll. Sie haben alle Leichtigkeit geraubt und Schwere hinterlassen.

In diesem Jahr, so kommt es mir vor, ist die Leichtigkeit nahezu weltweit zu einer vom Aussterben bedrohten Art geworden. Viele versuchen, etwas dagegen zu tun. Sie ignorieren einfach alles, was ihnen Leichtigkeit rauben könnte. Verbreitete Maßnahme ist es, den Politikteil der Zeitung weit weg zu legen, denn darin stecken Wörter wie Ukraine, Klima, Gaza, USA und Russland, lauter Killer der Leichtigkeit. Wer all diese Themen meidet, tut es vielleicht, um auf seine seelische Gesundheit zu achten. Das Dumme ist nur, Vermeidung funktioniert kurzfristig durchaus, langfristig lähmt sie und führt letztlich zum völligen Rückzug. Ja, und auch zur Depression. 

Sigmund Freud war ja nicht nur ein Meister der Tiefsinnigkeit. Der Begründer der Psychoanalyse sah im Humor das ganz besondere Rezept, mit dem Leben klarzukommen, denn, so schrieb er 1927: „Der Humor ist nicht resignativ, er ist trotzig.“ Mittelpunkt seiner Überlegungen war folgender Witz: Ein Verbrecher, der am Montag zum Galgen geführt wird, sagt: „Die Woche fängt ja gut an.“ „Der Humor will sagen“, so Freud, „sieh her, das ist nun die Welt, die so gefährlich aussieht. Ein Kinderspiel, gerade gut, einen Scherz darüber zu machen.“

Besonders in lähmender Zeit fallen mir immer mehr die auf, die regelmäßig vorangehen und einfach etwas tun. Zum Beispiel die Männer, die betagte Menschen aus dem Altenheim regelmäßig in Rikschas durch südoldenburgische Landschaften fahren. Frauen und Männer, die Menschen aus Afghanistan, Syrien oder der Ukraine ganz privat die deutsche Sprache vermitteln. Oder auch eine wie die Cloppenburgerin Maria Thien, die mit ihrer Initiative „Kleiner Stern“ seit nun schon 25 Jahren Licht im Leben herz- und krebskranker Kinder leuchten lässt. 

Niemand von ihnen wird die großen aktuellen Krisen beenden beziehungsweise durchgeknallte Despoten menschlich machen, aber sie alle drehen an den kleinen Rädern menschlicher Geschichte. Für sie kommt es nicht infrage, den Verrücktheiten ihrer Zeit gelähmt zuschauen und auch nicht, ihre Wut und Ohnmacht zu verbreiten. Mit beherztem Engagement ziehen sie es vor, sich als Friedensfürstinnen und -fürsten hungernder Seelen zu üben. Ihr Ding ist es, Dinge zu ändern, die man ändern kann, und jene hinzunehmen, die ändern zu wollen vergeblich und überheblich ist. Eine Geisteshaltung wie diese zieht mich mehr und mehr an.

Damit hatte ich nicht gerechnet

Gastkolumne in OM-Medien zum 11. November

Wissen kann richtig weh tun. Das habe ich kürzlich bei einer Einladung zum Kaffee begriffen. Am Tisch ging es nicht ausschließlich um die köstliche Marzipantorte der Gastgeberin, auch um die unappetitlichen Themen dieser Zeit. Damit hatte ich durchaus gerechnet, da ich in einer Runde informierter und kritischer Köpfe saß. Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass mein Gegenüber die Tagesschau an den Pranger stellte. Die Anklagepunkte lauteten: nur noch schreckliche Nachrichten, übertrieben dramatisiert und nicht mehr auszuhalten. Ein Blick ins empörte Gesicht der Klägerin sagte mir zweifelsfrei: Aktuelle Kriseninfos haben ihre Schmerzgrenze massiv überschritten. 

Unser Bundespräsident drischt nicht auf professionelle Medien ein, aber er kann nachvollziehen, was in Konsumenten aktueller Nachrichten vorgeht. In seiner Rede zum 100. Geburtstag des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein beklagte er eine „News-Erschöpfung“. Immer weniger Leser, Hörer und Zuschauerinnen schafften es, so Frank-Walter Steinmeier, in den sich „überstürzenden Nachrichtenlagen“ den Überblick und die Nerven zu behalten. Von Bürgerinnen und Bürgern wisse er, dass viele „in einer Art Selbstschutz“ zu Nachrichten-Verweigerern werden. „Andere ziehen sich zurück in eine Parallelwelt, in der Wahnsinn, Verschwörung und erfundene Wahrheit regieren.“

Steinmeiers Eindrücke werden vom Hamburger Hans-Bredow-Institut untermauert. Laut dessen Untersuchung meiden 45 Prozent der Befragten in Deutschland Nachrichten über den Krieg in der Ukraine und 27 Prozent Informationen über den Klimawandel. Schmerzhafter Haken an der Sache ist: Wer wesentliche Informationen ausblendet, kann kaum gute (Wahl-)Entscheidungen treffen und schon gar keine Lösungen für eine bessere Zukunft finden. 

Die große Paradoxie unserer Zeit ist: Nie konnte die Menschheit über mehr Informationen verfügen als heute, und noch nie war die Gefahr so groß, genau aus diesem Grund weniger zu wissen. 

In seinem Bestseller „12 Gesetze der Dummheit“ schreibt der Neurowissenschaftler Dr. Henning Beck: „Allein die Tatsache, dass wir einen hohen IQ haben, heißt noch lange nicht, dass wir der Dummheit entkommen wären. Das Gegenteil kann mitunter der Fall sein.“ Schließlich handeln wir vielfach wider unsere Existenz. Wir wissen, dass wir unser Verhalten – nicht nur hinsichtlich Klima und Artensterben – rasant ändern müssen, tun es aber allenfalls marginal. Viel lieber vertrauen wir darauf, das Problem, wenn es irgendwann mitten im Raum vor uns steht, schon irgendwie verscheuchen zu können. 

Dass wir uns mit der Zukunft schwer tun, verrät schon unsere Sprache. Wir sagen nicht: „Ich werde morgen ins Kino gehen.“ Wir sagen: „Ich gehe morgen ins Kino.“ Die Gegenwart erscheint uns greifbarer. Unsere Zukunft wirkt eher abstrakt, so, dass es schwer fällt, sich für sie ins Zeug zu legen. Am ehesten tun wir das, wenn wir glauben, dass unser persönlicher Nutzen deutlich spürbar wird. Und zwar sofort. Sofort ist allerdings nichts zu erwarten, wenn wir heute fürs Alter vorsorgen oder uns entschließen, gesund zu leben. 

Das Typische an Krisenzeiten ist: Sie gebären Pessimisten. Zugegeben, viele von ihnen sind gute Analytiker. Sie klingen schlau, neigen aber dazu, Themen zu verkomplizieren. Was es braucht, sind unzufriedene Optimisten. Mit ihrem Lebenshunger bringen sie es fertig, aus der letzten Mandel dieser Welt eine Marzipantorte zu zaubern.