Über Leichen schlendern

OM-Kolumne zum Februar

Schon vor Jahren habe ich mein Auto aufgefordert, mich täglich an etwas zu erinnern. Und es pariert. Ich brauche nur aufs Kennzeichen zu schauen, und schon sagt es mir, was ich oft vergesse. Dort stehen nach dem Ortskürzel die Buchstaben „CD“ für Carpe Diem (nutze den Tag). Nicht dass ich ohne diesen Hinweis untätig wäre, aber ich würde mich zu oft auf sinnlose Weise belasten und mir so den Tag versauen.

Inwiefern? Indem ich mich aufrege. Mal übers Wetter, oft über mich und beispielsweise immer wieder über AfD-Anhänger, die montagsabends durch die Innenstädte des Oldenburger Münsterlandes spazieren. Manchmal habe ich das Gefühl, sie könnten über Leichen gehen. Vor allem dann, wenn sie mit Hass auf der Zunge sogar über Stolpersteine schlendern, mit denen Menschen eines Rechtsstaates an die erinnern, die das Hassregime von einst vernichtet hat. 

Aufregung und schimpfende Revanche helfen nie weiter. Beide fressen Lebensenergie. Und nicht nur das. Wer sich am Schlechten festbeißt, hält sich auf Dauer die besten Menschen vom Leib. Man wird einsam. Denn wer will schon ständig hören, was fürchterlich ist und was Katastrophales droht! Klar, Menschen, die gern über Staat und Welt herziehen, rotten sich gern zusammen. Aber sie harmonieren auf Dauer nicht, weil sie die Tendenz haben, auch übereinander schlecht zu reden. 

Wenn ich jeden Tag aufs Beste nutzen will, brauche ich Gelassenheit. Vor allem dann, wenn die Welt aus den Fugen gerät. Bei diesem Stichwort fällt mir die Queen ein. Sie ist in meinen Augen die Königin der Gelassenheit. Ich denke auch an Ex-Kanzlerin Angela Merkel, die selbst in größter Turbulenz gelassen blieb. Doch wie geht das? Über Altkanzler Helmut Schmidt weiß man, dass er sich Gelassenheit zeitlebens vom römischen Kaiser und Philosophen Marc Aurel abguckte. Diesen alten Stoiker fand er schon als Junge faszinierend. Sein Denken half ihm als Staatsmann, massive Krisen zu bewältigen und schnell schwere Entscheidungen zu treffen. 

Aber was denkt so ein Stoiker? Kurz gesagt, dass Gelassenheit in der Konzentration auf das Wesentliche entsteht. Wer so denkt, nimmt das Leben ernst, aber nicht schwer. Das heißt nicht, dass die Stoiker Positiv-Denker waren. Sie blickten ganz genau auf das Schlechte und Verlogene. Ebenso wenig waren sie Schwarzmaler. Sie ließen sich jedoch nicht von dunklen Emotionen treiben und jammerten nicht. Stattdessen akzeptierten sie, was unabänderlich war. Und sie führten sich vor Augen, was Schlimmeres hätte passieren können. So empfanden sie nicht nur Freude über ihr Schicksal, aus ihrer Freude schöpften sie Kraft.

Wer in aufgebrachter Zeit Gelassenheit zeigt, fasziniert. So jemand wirkt stark und auch anziehend. Wenn ich’s recht überlege, mag ich schon allein das Wort Gelassenheit. Der Theologe und Philosoph Meister Eckhart soll es um 1300 in seinen Predigten geprägt haben. Ich mag es, weil in ihm das Aktive und das Passive steckt: Ich kann etwas lassen, und ich kann gelassen werden.

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