Fast kommt es mir so vor, als würde ich mit dem Schreiben meiner heutigen Kolumne einen Tabubruch begehen. Aber der November wird mir beistehen. Gewissermaßen haben wir ihn ja zu einem Themen-Knast gemacht, in den wir so ziemlich alle Gedanken inhaftieren, die uns besondere Angst bereiten können: Tabu-Themen wie Tod, Sterben und jeden auch nur ansatzweise morbid riechenden Gedanken. Alle Herbste wieder geben wir diesen Themen zu Allerheiligen, Allerseelen, Totensonntag und zum Volkstrauertag ritualisiert Freigang und hoffen, dass sie spätestens zum Advent alle wieder in ihrer Zelle sind. Aber wir können nicht davon ausgehen, dass sie dort bleiben. Finsterste Gedanken brechen zuweilen aus. Zum Beispiel dann, wenn uns jemand mitteilt, dass er todkrank ist, oder wenn ein Mensch aus unserem engeren Umfeld gerade gestorben ist.
Heutzutage sind wir vor diesen Themen so sicher wie nie zuvor. So richtig spürbar wuchs diese Sicherheit
im 19. Jahrhundert, als die Städte immer größer wurden. Solange Menschen in dörflicher Struktur oder miteinander im selben Haus lebten, war das Sterben zwangsläufig ein Gemeinschaftserlebnis. Was das bedeutete, wurde mir vor Jahren im Cloppenburger Museumsdorf klar. Auf den Dielen der
mächtigen Bauernhäuser dachte ich: Auf jeder dieser Dielen stand im Laufe von Jahrhunderten immer wieder ein Toter bis zur Beerdigung aufgebahrt. Drum herum verrichteten Erwachsene ihre Arbeit, Kinder spielten. Das fand niemand schön, aber normal. Aber auch wenn gerade niemand gestorben war, war der Tod irgendwie meistens präsent. Jeder Armbruch und jede kleine Infektion konnte tödlich sein. Durch die Medizin rückte das Thema Tod heftig in den Hintergrund, denn sie hat dafür gesorgt, dass sich die Lebenserwartung in Deutschland in den letzten 150 Jahren verdoppelt hat.
Wir haben den Tod nicht nur in die Ferne rücken können, wir haben ihn auch tabuisiert. Seltsam, dass es uns gelingt, kaum über ihn zu sprechen, wo doch etwa alle 30 Sekunden in Deutschland ein Mensch stirbt. Besonders merkwürdig wird dieses Schweigen in Anbetracht der Pandemie. In ihr sind bereits über 96 000 Menschen in Deutschland gestorben. Diese Pandemie hält uns plakativ vor Augen, dass unser Leben endlich ist. Und dennoch kratzt kaum einer am Tabu. Wer es doch tut, dem wird explizit oder auf subtile Weise klargemacht: Brich das Tabu und raus bist du. Außerdem haben wir uns lauter Spezialisten besorgt, denen wir alle Zuständigkeiten gegeben haben: Sanitäter, Ärzte, Pfleger, Sterbebegleiter, Bestatter. Da wundert es nicht, dass manch Fünfzigjähriger sagt, er habe noch nie einen Toten gesehen. Dem könnte man antworten: „Macht doch nichts.“ Aber diese Antwort stimmt nicht. Irgendwann brechen die inhaftierten Themen aus. Und früher oder später kommen sie uns ins Haus. Wer sich dann bereits mit ihnen befasst hat, betet nicht panisch den immer wieder gehörten Satz nach, der Tod gehöre zum Leben. Er begreift womöglich, dass ein Leben ohne Tod ohne Leben wäre.