Der Angstmacher und die schöne Grazie

„Irgendwie beneide ich den ja“, sagte die Kornblume.
„Wen?“, fragte das Gras.
„Den ollen Stacheldraht.“
„Wieso?“
„Weil der nie Angst haben muss, dass seine Zeit bald vorbei ist. Steht ewig an seiner Kuhweide, und jeder hat vor ihm Respekt.“
„Respekt?“, sagte das Gras, „höchstens Angst. Und das gilt auch nur für Rindviecher.“
„Meinste?“
„Klar, wenn hier einer mutig ist, dann eher du.“
„Du spinnst.“
„Nee“, sagte das Gras, „Viel mehr Angst hat doch der, der sich fürchtet, sie zu zeigen. Aber du erzählst mir von deinem Fracksausen.“
„Aber er sieht so mächtig aus mit seinen Stacheln.“
„Mag sein, mehr Macht hat aber einer, der Freude macht.“
„Wie das?“
„Ja, guck dich doch mal an. Alle, die dich sehen, kriegen strahlende Augen. Die bleiben stehen, selbst wenn sie es eilig haben. Und weil sie noch länger was von dir haben wollen, nehmen sie dich als Foto auch noch mit nach Hause.“ ?

Weil auch welke Wesen dürsten

„Ich hab auch schon mal was Frischeres als dich gesehen“, sagte die Vase zur Blüte.
„Und warum schaust du mich dann dauernd an?“
„Frag ich mich auch“, sagte die Vase.
„Wie, du weißt es nicht?“
„Doch, eigentlich schon, aber irgendwie auch nicht.“
„Vielleicht findest du mich ja einfach schön. Trotz meines Alters“, sagte die Blüte.
„Geht doch gar nicht. Andererseits, irgendwie fühlt sich das so an.“
„Wieso meinst du, dass das nicht geht?“
„Hast wohl vergessen wie alt du bist. Wo soll denn da noch Schönheit herkommen?“
„Ich glaube aus meinen Träumen, aus meiner Hoffnung.“
„Und wovon träumst du?“
„Von jemandem, der mich gern sieht.“
„Wieso?“
„Weil auch welke Wesen dürsten.“