Wenn nicht jetzt, wann dann?!

Gastkolumne in OM-Medien am 11. Januar

Obwohl ich nur wenig über ihn weiß, nicht einmal seinen Namen kenne, würde ich einen wie ihn gern kennenlernen. Wahrscheinlich hat er mir nämlich etwas voraus, und mit diesem gewissen Etwas würde er mich womöglich infizieren. Einer wie er registriert und verarbeitet die zahllosen Krisenmeldungen dieser bleiernen Zeit durchaus, aber sie drücken ihn nicht nieder. Das belegt eine Harvard-Studie, an der er teilgenommen hat. Sie ist eine der umfangreichsten wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Glück und Gesundheit. Eines der Ergebnisse: Dieser Mann gilt als der glücklichste von 2000 Teilnehmern. Bekannt ist über ihn, dass er gern Lehrer war und dass er seine Schüler und Familie liebte. Ihm werden ausgeprägte soziale Fähigkeiten und eine hohe emotionale Intelligenz zugeschrieben. Und was ganz wesentlich ist: Er kümmert sich um andere Menschen. 

Letzteres zahle sich insbesondere auf sein Wohlbefinden aus, sagt Co-Studienleiter Robert Waldinger in einem Interview mit der „Zeit“. Es spiele keine Rolle, so der Psychologieprofessor, ob sich jemand um andere kümmere, um sich selbst gut zu fühlen, oder ob er es ganz selbstlos tue. „Entscheidend ist, dass man sich besser fühlt.“ Es gibt dazu eine Aussage des Dalai Lama: „Die weise eigennützige Person kümmert sich um andere Menschen.“

Nun, wo dies auch Erkenntnis der seit 1938 geführten Harvard-Forschung ist, erkenne ich genau darin ein Licht, das in dunkler Zeit zur Zuversicht führen kann. Mir ist klar, dass der Weg dorthin gehörig unter Beschuss steht, denn die Zuversicht hat einen starken Gegner: den Zynismus. Von ihm sind nicht zuletzt ältere Menschen befallen, die lamentieren, jetzt drohe das Aus, weil alles den Bach runtergehe, was sie an Wertvollem geschaffen haben. Dies ist nicht nur falsch, es wirkt auch als Totschlagargument für alle, die eh dazu neigen, schockstarr in Untätigkeit zu verharren. 

Man muss sich mal vorstellen, was derartige Haltung für unsere Kinder- und Enkelgenerationen bedeutet. Wir berauben sie einer Hoffnung, die in ihnen noch viel mehr als in älteren Menschen zu Hause ist. Sie ist eine Kraft, mit der sie sich ins Ungewisse wagen. Und das obwohl sie klug sind und genau sehen, wie eng es für sie auf dieser Erde wird. Ich glaube, sie können so sein, weil sie nach vorne blickend auch noch etwas völlig anderes sehen als ihre Eltern und Großeltern: ihre noch ungestillte Lust auf liebende Berührungen, auf Vergnügen und auf Erfahrungen, die ihre Eltern nie gemacht haben. 

In diesem Zusammenhang drängt sich mir ein Satz des Arztes, Philosophen, Theologen und Friedensnobelpreisträgers Albert Schweitzer geradezu auf: „Du bist so jung wie deine Zuversicht, so alt wie deine Zweifel.“

Klar, dem kann man entgegenhalten, Optimismus in finstren Zeiten sei nichts anderes als ein Indiz für Intelligenzverfettung. Dies mag zutreffen, wenn Optimismus gepaart mit Naivität daherkommt. Aber Optimisten sind nicht per se naiv. Jedenfalls dann nicht, wenn sie Probleme klar erkennen und dennoch glauben, dass sie lösbar sind. Keine noch so große und unglaubliche Erfindung der Menschheit wäre ohne diese Haltung zustande gekommen. Und wenn die ganze Welt sagte, das geht nicht, fühlten diese Optimisten sich getrieben, es hinzukriegen. 

In einem halbwegs glücklichen Leben verstecken sich Optimismus und Zuversicht kaum noch vor uns. Darum sollten wir es angehen, das glückliche Leben. Gerade jetzt. Das hat mich die Harvard-Studie gelehrt. Ich glaube, am sichersten gelingt es, wenn wir anderen zu etwas mehr Glück verhelfen. Wenn wir anschließend in ihre Augen blicken, sehen wir die Quittung. Und die macht glücklich.

Diese Wut tut mir gut

OM-Medien-Kolumne März

Manchmal glaube ich, dass meine Urgroßmutter mit ihrer Weltsicht gar nicht so daneben lag. Sie ist zwar schon gestorben, bevor ich geboren wurde, aber ein paar ihrer Sätze wurden bis zu mir weitergereicht. Einer lautet: „Es ist kein Übel so groß, als dass nicht auch ein kleiner Nutzen dabei wäre.“

Mit Blick auf das Leid, das Putin anrichtet, klingt dieser Satz verboten zynisch. Und doch bringen mir genau diese Schreckensszenarien eine Klarheit, die ich so zuvor nicht hatte. Begriffe wie „vergeben“ und „versöhnen“ sehe ich in neuem Licht. Mag sein, dass sie in Anbetracht der aktuellen Weltlage ein wenig wie das romantisierende Vokabular einer christlichen Verklärtheit klingen. Im Umgang mit einem, der keinen Frieden sondern den Krieg will, wirken Begriffe wie Versöhnung und Vergebung wie Kanonenrohre aus Marzipan. Sind da nicht Wut, Hass und Revanche viel wirkungsvoller?

Könnte man meinen. Mit der Wut kann ich mich anfreunden. Sie gibt mir die Kraft, mich vom Gegner innerlich zu distanzieren. Ist mir das gelungen, kann ich den Ehrgeiz entwickeln, mich nicht kaputt machen zu lassen. Aber Hass und Revanche sind erschöpfend. Weniger für den den Gegner als für mich selbst. 

Während Putin versucht, die Welt aus den Angeln zu heben, erscheint es wichtiger denn je, dass wir in unseren ganz privaten Mikrostaaten Haltung üben. Auch uns ist so manches Mal danach, uns gegenüber wem auch immer zu munitionieren, weil uns jemand übel mitgespielt hat. Klar, wenn es gerade so richtig weh tut, liegt Vergebung ferner als der Mond, aber Vergebung bedeutet nichts anderes, als dass ich die Verletzung, die mir jemand zugefügt hat, weggebe, dass ich sie beim Gegner lasse. Das geht nicht einfach so. Der Benediktinermönch Anselm Grün sagt dazu sinngemäß: Wenn ich meine Wut zugelassen habe, kann ich versuchen zu verstehen, warum der oder die andere mich attackiert. Womöglich hat so jemand seine eigene Verletzung weitergegeben. Sobald ich das durchschaue, durchschaue ich auch mich, und der Angriff tut nicht mehr so weh.

Fürs Vergeben brauche ich keine Hilfe. Das kann jeder allein. Versöhnung hingegen kann nur zwischen zwei Personen funktionieren. Und die ist in unserer immer mehr gespaltenen Gesellschaft elementar wichtig. Ich glaube, wir dürfen uns nicht mit diesem größer werdenden Spalt abfinden, denn er ist ein Spalt von Menschen, die in sich gespalten sind. 

Vor drei Jahren bin ich auf den russischen Schriftsteller Michail Schischkin aufmerksam geworden. Mit seinem Freund, dem früheren WDR-Intendanten Fritz Pleitgen, war er zu einer Lesung in den Kulturkreis Visbek gekommen. Schischkin hat als Einziger alle drei wichtigen Literaturpreise Russlands gewonnen. Vor ein paar Tagen sagte er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung etwas, das mich klarer auf Putin und das Volk schauen lässt, das ihm hörig zu sein scheint: „Die meistem Russen leben noch im mittelalterlichen Weltbild: Das heilige Russland ist vom Ozean der Feinde umzingelt, und nur der Zar im Kreml kann uns retten. Diesen Patriotismus haben Generationen von Diktatoren missbraucht. Und nun glauben die mobilisierten Russen, ihre Heimat vor Faschisten aus der Nato zu verteidigen.“

Aber wie ist das heute noch möglich? Wenn ich mir den Namen Putin genau anschaue, stelle ich fest, dass er Programm ist. In Putin steckt Input. Und mit seinem verbrecherischen Input füttert er die Gehirne und Herzen seines Volkes. Indem ich das begreife, begebe ich mich auf den Weg, russischen Soldaten zu vergeben. Und das tut mir gut.

Flucht kennt keine Grenzen

Auf eigne Wände
ist Verlass.
Sie bleiben, wo sie sind, 
nehmen’s geduldig hin, 
wenn wir uns an sie lehnen. 
Und wenn keiner kommt,
uns zuzuhörn, 
eigne Wände sind da,
schenken uns 
ihr steinernes Ohr.

Wände,
von Barbaren gebaut,
kreuzen auf Fluchtwegen auf,
haben Beton im Ohr,
damit keine Träne in sie dringt,
die Hasswände sprengt. 
Doch Flucht 
kennt keine Grenzen,
macht Paradiese menschenleer,
bis Barbaren 
nichts als eigene Wände erblicken
und im Rückwärts 
ihr einsames Vorwärts sehen.

Ich erschrecke vor mir selbst

OM-Kolumne zum April

Ich muss feststellen, dass ich einem Menschen den Tod wünsche. Das erschrickt mich. Dabei weiß ich, dass aktuell selbst solche so denken, von denen man es auf Anhieb nicht glauben würde. Zum Beispiel Detlef Pollack, er ist Religionssoziologe an der Uni Münster. Bezogen auf Wladimir Putin sagt er in der ZEIT: „Manchmal packt mich eine solche Wut, dass ich denke, man müsste diesem Verbrecher antun, was er anderen antut.“

Die Tatsache, dass ein Theologe und honoriger Professor das sagt, beruhigt mich kaum spürbar. Ich kann nämlich nicht übersehen, was die Ursache meiner finstren Gedanken ist: Hass. Zugegeben, es kann sich gut anfühlen, Hass raus zu lassen, aber nur Momente lang. Auf längere Sicht ist Hass nichts anderes als die metastasierende Version von Wut, und die frisst uns Menschen auf.

Ich stelle fest, mindestens einmal pro Woche eine Stunde lang komplett frei von Kriegs- und Hassgedanken zu sein. Dann, wenn ich mit dem Stapelfelder Parforce-Ensemble Musik mache. Musizierend schaffen wir es, die Detonationen der Seele sogar im Pianissimo zu übertönen. Solcher Ausgleich ist wertvoll, denn wer jede Kriegsnachricht verfolgt, führt Krieg gegen seinen Seelenfrieden.

Es fällt auf, dass dieser Krieg selbst die betroffen macht, die er nicht konkret betrifft. Klar, Kriege auf dem Balkan, in Syrien, Afghanistan oder im Irak berühren uns, aber Putins aktuelles Morden macht uns betroffen. Warum das so ist, kapierte ich während einer Friedensdemo auf dem Cloppenburger Marktplatz. Dechant Bernd Strickmann fragte die Versammelten durchs Mikro, wem die Zahl 1758 etwas sage. Massenhaft stilles Schulterzucken. Dann noch eine Zahl: 1930. Auch mit der konnte keiner etwas anfangen. Strickmanns Lösung: Bis Mallorca sind es 1930 Kilometer, bis Kiew nur 1758.

Nahes Gemetzel gebiert Angst und Hilflosigkeit. Darum treffen sich überall Menschen zu Friedensgebeten. In einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft drängt sich die Frage auf, ob das nicht Unfug ist. Ich halte das weder für Unfug noch für sentimental. Johanna Haberer auch nicht. Sie ist Theologin. In ihrem Buch „Die Seele“ schreibt sie über die Sehnsucht nach Seelengemeinschaft. Für sie sind solche Gebete und auch die Ekstase bei Rockkonzerten oder wenn Tausende „Dona nobis pacem“ singen, „Instrumente, um andere Seelen zu erreichen und unser einsames Ich mit ihnen zu verbinden.“ Solches Verbundensein brauchen wir, wenn alles, was uns wertvoll ist, auseinanderzufliegen droht. 

Aktuell fragen sich viele, ob wir blind und naiv waren. Ob wir uns nicht gegen Putins Mörderpolitik hätten wehren müssen, statt uns für die Schaffung von Gendersternchen oder für die Anerkennung von Transgender-Identitäten abzustrampeln und uns gegen soziale Ungleichheit zu wehren. Wir waren nicht naiv. Wir waren und sind uns unserer Werte bewusst. Die gebieten es uns sogar, Sorge für die Kinder unserer Soldatinnen und Soldaten zu tragen. Das unterscheidet sich von Putins Denken. Für ihn sind Menschen strategisches Mengenverbrauchsgut. Soldaten, die er für seine diabolischen Ideale kämpfen lässt, allemal.