Gastkolumne in OM-Medien am 8. Juni
Später Nachmittag. Eine 39-jährige Geschäftsfrau betritt den Vorraum einer Bankfiliale. Eine Sicherheitskamera dokumentiert, was nun geschieht: Die Frau bleibt stehen. Eine Sekunde lang schaut sie auf den ausgestreckten Körper eines Mannes, der mitten im Raum liegt. Forsch schlängelt sie sich nah am Kopf des Mannes vorbei zum Automaten. Dort erledigt sie ihre Bankgeschäfte, wirft zwei, drei Blicke auf den Mann am Boden. Die Kamera dokumentiert auch den Elan, mit dem sie zwei Minuten später die Bank verlässt. Sie wirft keinen Blick zurück. Nach ihr kommen einzeln noch drei weitere Kunden. Keiner kümmert sich. Erst ein vierter ruft den Notarzt.
Ein paar Minuten zuvor war der 83-Jährige gestürzt und mit dem Kopf auf dem Fliesenboden aufgeschlagen. Eine Woche später stirbt er.
Dies hat sich in Essen-Borbeck zugetragen, könnte aber überall passieren. Es ist eines von vielen Beispielen himmelschreiender Gleichgültigkeit und Ignoranz.
Das Wort „Gleichgültigkeit“ hat es in sich. Mit seinen Bestandteilen „gleich“ und „gültig“ zeigt es, dass zwei verschiedene Dinge als gleichermaßen gültig betrachtet werden. Das mag im ersten Moment harmlos klingen, ist es aber nicht. Die Frau in der Bankfiliale hat die Möglichkeiten des Überlebens und des Sterbens eines am Boden Liegenden mit gleicher Gültigkeit betrachtet. So bekommt Gleichgültigkeit etwas Entmenschlichendes.
Wir alle kennen Beispiele für eigene Gleichgültigkeit, und wir haben Ausreden dafür. Ebenso für unser Nichtstun, wenn Situationen nach Einschreiten oder Widerspruch schreien. Aber wer seine Gleichgültigkeit nicht bekämpft, erstickt eigenes Mitgefühl. So bekommt die Seele Hornhaut. Das Fatale an der Gleichgültigkeit ist: Sie ist von strafrechtlicher Relevanz, denn die Hemmschwelle, Straftaten zu begehen, wird durch mangelndes Mitgefühl sehr niedrig.
Wer sich in der Literatur mit der Gleichgültigkeit beschäftigt, stößt schnell auf den französischen Diplomaten, Lyriker und Essayisten Stéphane Hessel. Er kämpfte im Widerstand und überlebte das KZ Buchenwald. 2010 veröffentlichte er mit 93 Jahren einen Essay mit dem Titel „Empört euch!“. Innerhalb von vier Monaten wurden über eine Million Exemplare des Werkes verkauft. Hessel verzichtete auf sein Honorar. Er schrieb den Text als Gegengift zur Gleichgültigkeit, indem er zu einer engagierten Lebenshaltung, zu gewaltloser Revolte und zivilem Ungehorsam aufrief. Seine Überzeugung lautete, „das Schlimmste, was man sich und der Welt antun“ könne, sei die Gleichgültigkeit gegenüber politischen Verhältnissen.
„Neues schaffen heißt, Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt, Neues schaffen“, so das Credo dieses großen alten Mannes. Er formulierte es für eine lebenswerte Zukunft. Sein Aufruf kann gar nicht laut genug erklingen, denn aktuelle Allensbach-Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Deutschen mit Neuem wenig im Sinn hat. 56 Prozent der Befragten sagen, sie würden lieber in der Vergangenheit als in der Zukunft leben.
Solche Stimmen sind Musik in den Ohren rechter Populisten, die uns ein nostalgisch verklärtes Gestern einbimsen und eine Zukunft frei von Zumutungen versprechen – nach dem Motto: Ihr dürft so bleiben, wie ihr seid. Doch das klappte noch nie. In keiner Epoche.
Deutschland und Europa können nicht bleiben, wie sie sind. Nicht, dass sie, wie der Mann in der Bank, zusammengebrochen wären. Sie sind angeschlagen. Aber in ihren Adern fließt das Blut der Demokratie. Wer sich jetzt bei der Wahl nicht für diese zwei Patienten stark macht, überlässt sie gleichgültig denen, denen die Würde des Menschen scheißegal ist.