Von schönen und von satanischen Seelen

Gastkolumne in OM-Medien am 2. November

Ich weiß nicht mehr, wann ich sie zum ersten Mal sah. Es muss vor über zehn Jahren gewesen sein. An einem Herbstabend entdeckte ich sie auf dem Weg ins Haus. Sie stand vor den Stämmen einer alten Kiefer. Wie angewurzelt muss ich gewirkt haben, als ich sie dort erblickte. Dabei war es nicht allein ihre Schönheit, die mich festhielt. Es war ihr rätselhaftes Auftauchen. Mit absoluter Sicherheit konnte ich sagen, dass diese Rose mit ihrer exorbitant roten Blüte bisher nicht dort gestanden hatte. Irgendjemand musste sie heimlich vor der Haustür eingepflanzt haben. Aber wer?

Im Laufe der Jahre habe ich einige Freunde und Bekannte darauf angesprochen, doch bis heute ist dieses Geschenk ein Rätsel. Klar ist mir nur, der Spender oder die Spenderin ist nicht auf ein Dankeschön aus. Er oder sie wollte nur eines: erfreuen.

Manchmal versuche ich mir auszumalen, was für ein Wesen dieser Mensch haben mag. Nicht nur am heutigen Allerseelentag frage ich mich, ob er überhaupt noch lebt. Falls nicht, seine gewiss schöne Seele ist keineswegs tot. In mir blüht sie ganz lebendig rot. Immer mal wieder.

Ganz anders verhält es sich mit dem Geschenk, das der Amerikaner John Dreher bekommen hat. Völlig unerwartet kriegte er kürzlich einen Scheck über eine Million US-Dollar in die Hand gedrückt. Von Elon Musk. Der gilt als reichster Mann der Welt. Sein Name steht für den Autokonzern Tesla und das Raketen- und Satellitenunternehmen SpaceX. 

Der Unterschied zwischen John Dreher und mir ist: Der Amerikaner weiß genau, bei wem er sich wie zu revanchieren hat. Er muss bei der US-Wahl nur sein Kreuzchen vor den Namen des Republikaners Donald Trump setzen, denn auf den fährt Musk so heiß ab wie seine Raketen ins All steigen. Dreher macht das gern, und Musk weiß, dass auch andere Amerikaner gern mit einem Scheck in der Hand vor ihm zu Kreuze kriechen würden. Darum spendiert dieser mephistophelische Weihnachtsmann schon seit Wochen eine Million US-Dollar für den unguten Zweck. Tag für Tag. 

Apropos Weihnachten: In den letzten Tagen des Advent wird immer wieder deutlich, wie schwer es ganz normalen Menschen fällt, zu schenken. Oft ist dann zu hören: „Ich muss unbedingt noch was für Weihnachten besorgen.“ Ich finde, dieser Satz verrät einen Fehler im System, denn „brauchen“ im Sinne von „benötigen“ ist das falsche Wort, wenn es um Geschenke geht. Am ehesten treffen sie ins Schwarze, wenn sie freiwillig und von Herzen kommen. Dennoch karrt so mancher Schenkende vor Weihnachten mühselig viel mehr zusammen, als ihm lieb ist. 

Dazu fällt mir ein Satz von Anselm Grün ein. In seiner so typisch ungedrechselten Art sagt der Benediktinermönch, ohne es verallgemeinern zu wollen: „Wer viel gibt, der braucht auch viel.“ Er will damit sagen, dass manche, die viel geben, viel Anerkennung, Lob, Zuwendung, Liebe brauchen. „Doch wenn ich gebe, weil ich brauche“, sagt Anselm Grün, „bekomme ich nie, was ich brauche. Es ist immer zu wenig.“

Wer häufig gern gibt, weil er gern Freude bereitet, tut gut daran, das Nehmen nicht zu vergessen. Ich denke dabei an eine Frau, bei der sämtliche Leute ihre Probleme abladen. Wenn es ihr mal nicht gut geht, leidet sie darunter, dass niemand ihr ein offenes Ohr schenkt. Aber sie gibt zu, dass es ihr schwer fällt, darum zu bitten. 

Mir zeigt das, dass Nehmen ebenso wichtig ist wie Geben. Denn auf Dauer können wir nur etwas geben, wenn wir ausreichend genommen haben. Wer nur gibt, wird leer. Und wer ständig nur nimmt, verschluckt sich daran.

Empört euch!

Gastkolumne in OM-Medien am 8. Juni

Später Nachmittag. Eine 39-jährige Geschäftsfrau betritt den Vorraum einer Bankfiliale. Eine Sicherheitskamera dokumentiert, was nun geschieht: Die Frau bleibt stehen. Eine Sekunde lang schaut sie auf den ausgestreckten Körper eines Mannes, der mitten im Raum liegt. Forsch schlängelt sie sich nah am Kopf des Mannes vorbei zum Automaten. Dort erledigt sie ihre Bankgeschäfte, wirft zwei, drei Blicke auf den Mann am Boden. Die Kamera dokumentiert auch den Elan, mit dem sie zwei Minuten später die Bank verlässt. Sie wirft keinen Blick zurück. Nach ihr kommen einzeln noch drei weitere Kunden. Keiner kümmert sich. Erst ein vierter ruft den Notarzt.

Ein paar Minuten zuvor war der 83-Jährige gestürzt und mit dem Kopf auf dem Fliesenboden aufgeschlagen. Eine Woche später stirbt er.

Dies hat sich in Essen-Borbeck zugetragen, könnte aber überall passieren. Es ist eines von vielen Beispielen himmelschreiender Gleichgültigkeit und Ignoranz. 

Das Wort „Gleichgültigkeit“ hat es in sich. Mit seinen Bestandteilen „gleich“ und „gültig“ zeigt es, dass zwei verschiedene Dinge als gleichermaßen gültig betrachtet werden. Das mag im ersten Moment harmlos klingen, ist es aber nicht. Die Frau in der Bankfiliale hat die Möglichkeiten des Überlebens und des Sterbens eines am Boden Liegenden mit gleicher Gültigkeit betrachtet. So bekommt Gleichgültigkeit etwas Entmenschlichendes. 

Wir alle kennen Beispiele für eigene Gleichgültigkeit, und wir haben Ausreden dafür. Ebenso für unser Nichtstun, wenn Situationen nach Einschreiten oder Widerspruch schreien. Aber wer seine Gleichgültigkeit nicht bekämpft, erstickt eigenes Mitgefühl. So bekommt die Seele Hornhaut. Das Fatale an der Gleichgültigkeit ist: Sie ist von strafrechtlicher Relevanz, denn die Hemmschwelle, Straftaten zu begehen, wird durch mangelndes Mitgefühl sehr niedrig. 

Wer sich in der Literatur mit der Gleichgültigkeit beschäftigt, stößt schnell auf  den französischen Diplomaten, Lyriker und Essayisten Stéphane Hessel. Er kämpfte im Widerstand und überlebte das KZ Buchenwald. 2010 veröffentlichte er mit 93 Jahren einen Essay mit dem Titel „Empört euch!“. Innerhalb von vier Monaten wurden über eine Million Exemplare des Werkes verkauft. Hessel verzichtete auf sein Honorar. Er schrieb den Text als Gegengift zur Gleichgültigkeit, indem er zu einer engagierten Lebenshaltung, zu gewaltloser Revolte und zivilem Ungehorsam aufrief. Seine Überzeugung lautete, „das Schlimmste, was man sich und der Welt antun“ könne, sei die Gleichgültigkeit gegenüber politischen Verhältnissen.

„Neues schaffen heißt, Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt, Neues schaffen“, so das Credo dieses großen alten Mannes. Er formulierte es für eine lebenswerte Zukunft. Sein Aufruf kann gar nicht laut genug erklingen, denn aktuelle Allensbach-Umfragen zeigen,  dass die Mehrheit der Deutschen mit Neuem wenig im Sinn hat. 56 Prozent der Befragten sagen, sie würden lieber in der Vergangenheit als in der Zukunft leben. 

Solche Stimmen sind Musik in den Ohren rechter Populisten, die uns ein nostalgisch verklärtes Gestern einbimsen und eine Zukunft frei von Zumutungen versprechen – nach dem Motto: Ihr dürft so bleiben, wie ihr seid. Doch das klappte noch nie. In keiner Epoche.

Deutschland und Europa können nicht bleiben, wie sie sind. Nicht, dass sie, wie der Mann in der Bank, zusammengebrochen wären. Sie sind angeschlagen. Aber in ihren Adern fließt das Blut der Demokratie. Wer sich jetzt bei der Wahl nicht für diese zwei Patienten stark macht, überlässt sie gleichgültig denen, denen die Würde des Menschen scheißegal ist.

Er hatte keine Wahl

OM-Medien-Kolumne September

Manche Väter prägen ihre Söhne auf dramatische Weise. Laurence Gonzales hatte so einen. Sein Vater war Kampfpilot bei der US-Airforce. Als er im Januar 1945 einen Angriff auf Düsseldorf flog, wurde er in 8000 Metern Höhe abgeschossen. Seinen Fallschirm bekam er nicht zu packen. Er hatte keine Wahl, konnte nur fallen. Dennoch kam er lebend unten an. Alle möglichen Knochen waren gebrochen, aber nicht das Genick. Das war sein ungeheures Glück. 

Laurence, seinen Sohn, hielt das nicht davon ab, Kunstflieger zu werden. Später wurde er Journalist und Autor. Für seine Bücher „Deep Survival“ und „Flight 232“ erhielt er zahlreiche Preise. Die Katastrophe seines Vaters ging ihm nie aus dem Kopf. Seit Jahrzehnten forscht der 74-Jährige nach Antworten auf die Fragen: Gibt es eine Formel zum Überleben in Notsituationen? Wie trifft man dann die richtige Wahl?  

Im Interview mit Süddeutsche Zeitung sagt er, echten Überlebenskünstlern helfe ihr schwarzer Humor und die Konzentration auf das Schöne im Leben. Ebenso ihre Entscheidung zum Altruismus: „Wenn Sie sich um jemanden kümmern, der schwächer ist als Sie, werden Sie vom Opfer zum Retter.“ Das mache psychologisch einen großen Unterschied. Denn „je mehr man über jemand anderen nachdenkt, desto weniger denkt man über sich selbst und seine Probleme nach.“

Meistens haben wir die Wahl, uns so oder so zu verhalten. Die Wahl zu haben, ist ein Privileg. Das wird erst so richtig bewusst, wenn man, wie Gonzales’ Vater, keine hat. Klar, wer vor einer Entscheidung steht, steht oft auch vor einem Problem: Das kann schon am frühen Morgen aufkreuzen, beim Blick in den Kleiderschrank oder später beim Italiener, wenn sich gleich die komplette Speisekarte als Gaumenstreichler gebärdet. Noch schwieriger wird es vor fundamentalen Entscheidungen: bei der Frage, welchen Beruf ich ergreife, ob und wen ich heirate, ob ich Kinder in diese Welt setze oder wen ich am 9. Oktober in Niedersachsens Landtag wähle.

Klar, Entscheidungen können schwer fallen, vor allem dann, wenn mir nicht klar ist, was ich will. Zum Beispiel weiterhin wie gejagt über die Autobahn heizen oder alles daransetzen, dass der klimakollabierende Erdball nicht abfackelt. 

Diesbezüglich bringt Petra Pinsler in der Zeitung DIE ZEIT zwei schwierige aber merkenswerte Wörter ins Spiel: „kognitive Dissonanz“. Der Begriff kommt aus der Psychologie. Fachleute verwenden ihn, wenn das Verhalten von Menschen nicht zu ihrer Wahrnehmung passt, wenn also eine Dissonanz entsteht. Da wir keine Dissonanzen mögen, blenden wir in komplizierten Lagen gern die Wahrnehmung aus, statt neue Entscheidungen zu treffen und unser Verhalten zu ändern. Wie etwa ein Alkoholiker. Er weiß, dass er sich ruiniert, säuft aber weiter, weil er sich daran erinnert, dass Onkel Josef saufend fast 90 geworden ist.  

Manchmal mag es ja verführerisch sein, sich in Oblomow-Manier morgens gar nicht erst anzuziehen und jede Entscheidung zu verpennen. Aber bin ich dann um eine Wahl herumgekommen? Nein. Der Existentialist Sartre erklärt, wieso. Er sagt: Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt. Damit meint er: Auch wer sich um eine Entscheidung herumdrückt, hat seine Entscheidung bereits gefällt. Nämlich die, nichts zu verändern.