Wir sollten es feiern

Gastkolumne in OM-Medien am 28. September

Es war ein Herbstmorgen, kurz vor vier, A1 Richtung Osnabrück. Auf der rechten Spur Lkw an Lkw. Wie eine Lichterkette glitten sie durch die Dunkelheit. Kein Unheil ahnend gab ich Gas, zog links vorbei. Ein kurzer Blick auf den Tacho: „140“ stand da. Schnell, aber nicht zu schnell, dachte ich. Vorne war ja alles frei. Doch schon im nächsten Moment zwei glänzende Punkte. Direkt vor mir. Sogleich eine schreckliche Ahnung: Das könnten Augen sein. Dann nur noch Lärm und Erschütterung. Glassplitter flogen mir ins Gesicht. Sekunden danach begriff ich, dass ich tatsächlich noch lebte und nicht einmal verletzt war. Ein Polizist sagte mir später, dass ein Bulle (kein Kollege) breitseits auf der Überholspur gestanden habe. Mir schoss Dank durch Kopf und Glieder. 

Religiöse Menschen danken dem Himmel, Ungläubige dem Leben. Wem wir danken, spielt jedoch eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist, dass wir uns überhaupt bedanken können. Das Wunderbare ist nämlich, während wir Dankbarkeit empfinden, bringt unser Geist es nicht fertig, sich unentwegt an Problemen festzubeißen. Er hat Schöneres zu tun. Und bei der Vorstellung, dass im Nu alles vorbei sein kann, nimmt er wahr, was er meistens übersieht. Die alltäglichen Kleinigkeiten: das fröhliche Gesicht des Paketzustellers, die warme Dusche am Morgen oder den jungen Kurden, der hinter mir her hetzte, als ich vom Gelände der Tankstelle fahren wollte. Er schob mir meine Kreditkarte durchs Seitenfenster. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie mir an der Kasse auf den Boden gefallen war. Als ich mich bedankte, meinte er: „Ist doch selbstverständlich.“

Genau das ist es nicht. Und so will ich es auch nicht verstehen, denn das würde mir den Blick auf das Gute vernebeln. 

Als die Türme des World Trade Center eingestürzt waren, machten US-Psychologen eine erstaunliche Feststellung. Sie berichten, dass viele Menschen noch Monate später mehr Dankbarkeit empfanden als zuvor. Als hätte die schlagartige Begegnung mit dem Bösen ihren Blick für das Gute geschärft.

Angesichts einer beängstigenden Diagnose oder inmitten einer schweren Krise  Dankbarkeit aufzubringen, ist kaum möglich. Dazu anzuraten, wäre zynisch. Es kann auch nicht das Ziel sein, jeden Verlust und alles Verbockte durch die rosarote Brille zu betrachten. Wer das tut, versucht, Negatives unter den Teppich der Dankbarkeit zu kehren. Doch auf diese Weise wird niemand so wichtigen Gefühlen wie Trauer und Wut gerecht. 

Dennoch: Wissenschaftlich erwiesen ist, dass dankbare Menschen glücklicher, optimistischer und hilfsbereiter sind. Und somit sind sie das Schmieröl sozialer Beziehungen. 

Manchmal habe ich den Eindruck, dass es Menschen, denen es materiell nicht so gut geht, leichter fällt, Dank zu zeigen. Vielleicht liegt es daran, dass Sie ihre Abhängigkeit stärker fühlen als andere. Wer wirtschaftlich auf sicherem Boden steht, versucht, jede Abhängigkeit zu bekämpfen. Aber vielleicht wäre es sinnvoller, sich bewusst zu sagen, dass wir alle Empfangende sind.

Aus dem Gefängnis der Gestapo schrieb der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer einen Brief an seine Eltern. Ein Satz daraus geht mir unter die Haut: „Im normalen Leben wird einem oft gar nicht bewusst, dass der Mensch unendlich viel mehr empfängt, als er gibt, und dass Dankbarkeit das Leben erst reich macht.“

Wir sollten dankbar feiern, dass wir viel, ja, sehr viel zu verlieren haben.

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