Die schönste Bescherung

Gastkolumne in OM-Medien zum 23. Dezember

Es sieht noch finsterer um die großen Kirchen aus, als bisher angenommen. Und das sogar im Winter, wenn es allerorts illuminierte Weihnachtssehnsucht schneit. Eine Umfrage des Markt- und Sozialforschungsinstituts INSA und eine Forsa-Studie führen dies frostig vor Augen: 

Der Anteil der Menschen, die sich noch zu einer christlichen Gemeinschaft zählen, werde im kommenden Jahr unter 50 Prozent sinken. So die Hamburger Theologieprofessorin Kristin Merle in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Aktuell seien 20 Prozent der Katholiken fest entschlossen, aus ihrer Kirche auszutreten. Bei den Protestanten seien es 17 Prozent. Und selbst zu Weihnachten verlieren Kirchen ihren Magnetismus. Nur noch jeder vierte Befragte hat vor, Heiligabend zur Christmette zu gehen. Dabei galt dieser Tag bisher als Ausnahmetermin. Verlässlich zog er Weihnachtschristen an, also jene, die nur einmal pro Jahr in die Kirche gehen. Darum begreifen Priester und Pfarrerinnen den Heiligabend schon lange als wertvollsten Marketing-Tag des Jahres. Kein Wunder also, dass sich die meisten von ihnen da besonders ins Zeug legen.

Wenn sich dennoch all ihre Bemühungen nicht so richtig auszahlen, könnte man meinen, der moderne Mensch habe jegliche Offenheit für Transzendenz verloren. Dagegen würde der russische Religionsphilosoph und einstige Marxist Nikolaj Berdjajew protestieren – wenn er noch leben würde. Er war der Überzeugung: „Der Mensch ist unheilbar religiös.“ Und gewissermaßen bestätigt das die Forsa-Studie. Kristin Merle liest aus ihr eindeutig ein religiöses Bedürfnis. Sie sagt, die Menschen seien offen für Erlebnisse, „die sie spüren lassen, dass es etwas Größeres, Tragendes gibt.“ Allerdings finden sie dieses Größere kaum in der Kirche.

Klar, es ist für Geistliche kein leichter Job, uns Heutigen glaubhaft zu vermitteln, dass der Zimmermann namens Jesus Gott ist. Schließlich sind wir es gewohnt, nahezu alles wissenschaftlich belegt zu bekommen. Historisch belegt ist allenfalls, dass dieser Jesus aus Nazareth existiert hat. Aber ihn auf einer göttlichen Säule zu sehen, ist eine andere Liga. Genau das ist allerdings nicht erforderlich. Es wäre sogar falsch. 

In der Kirche ist zu hören, Gott sei Mensch geworden. Mich hat diese Aussage nie so richtig erreicht. Sie ist mir zu abstrakt. Hinzu kommt, durch unzähliges Hören hat diese Formulierung ihre Angelhaken in mir verloren. Sie streift mich allenfalls wie eine abgelutschte Schnur. Nachdenklich hingegen hat mich eine Formulierung des brasilianischen Theologen Leonardo Boff gemacht. Er schildert, was in den ersten Christen vor 2000 Jahren vorgegangen ist. Tief beeindruckt sagten sie sich: „So menschlich wie Jesus kann nur Gott sein. Und da begannen sie, ihn Gott zu nennen.“

Das heißt für mich, Menschen, die diesen Mann erlebt haben, haben ihn mit ihresgleichen auf untrennbare Weise zusammengebracht. Genau das ist für mich das Außerordentliche des Christentums. Denn es bedeutet ja nicht nur, dass die ersten Christen in ihm etwas wunderbar Göttliches erkannt haben. Es bedeutet auch, dass wir Menschen Göttliches tun können. Wie das geht? Indem wir Blinde sehend machen. Überall stecken Menschen dermaßen im Schlamassel, dass sie ihre Möglichkeiten nicht mehr erkennen. Sie sind blind. Wir können uns auf sie einlassen und ihnen Durchblick verschaffen. Wir müssen es nur tun, und schon haben wir die schönste Bescherung.

Einfach mal warten

OM-Medien-Kolumne Dezember

Würde mich nicht wundern, wenn die Betreiber von Christbaumkulturen just dabei wären, ihre brancheneigene Hymne zu entdecken. Ich höre schon wie sie singen: „O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie früh sind deine Käufer.“ Eine Umfrage des Portals Statista ergab nämlich nicht nur, dass Menschen in Deutschland ihren Weihnachtsbaum immer früher kaufen. Mehr als die Hälfte stellen ihn auch lange vor Heiligabend in ihrer Wohnung auf: bereits Anfang bis Mitte Dezember.

Von wegen warten aufs Christkind. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich am Nachmittag eines Heiligabends im kleinen Lloyd unserer Nachbarn landete. Mein Vater hatte mich da reingeschoben. Da saß ich neben Maria, Bernhard und Hermann-Josef. Das waren die Kinder von nebenan. Am Steuer saß ihr Vater, den ich dafür bewunderte, wie er als Kriegsversehrter mit seinem Holzbein so prima Gas geben konnte. Wir fuhren nicht weit. Nur bis zum Christkindchenweg in Cloppenburg. Dort stiegen wir aus, liefen durch den angrenzenden Wald und waren uns sicher, irgendwo dort das Christkind zu entdecken. So richtig sehen konnten wir es nicht. Das lag aber nur am Dickicht und an der aufkommenden Dunkelheit. Doch wir fühlten es. Ganz genau. Zurück zu Hause gab es keine Zeit mehr, über dieses mystische Erleben nachzudenken. Ein Glöckchen erklang, und ich war wie geplättet, als ich den funkelnden Tannenbaum im Wohnzimmer erblickte.

Schnee von gestern? Nein, von vorvorgestern. Sentimentaler Schneematsch könnte man sagen. Heute herrschen andere Temperaturen. Die werden von einer Konsumwelt bestimmt, in der das geduldige Abwarten nicht gut ankommt. Kunden sollen nicht warten. Ihre Wünsche sollen auf der Stelle in Erfüllung gehen. Gewissermaßen tun sie das sogar bei Online-Bestellungen, denn da passiert sofort etwas. Auf dem Handy ist genau zu sehen, wie oft wir noch schlafen müssen, bis der Paket-Engel zu uns kommt. Oft nur bis zum nächsten Tag. Per Handy kann man sogar seine Flugroute erkennen und exakt mitverfolgen, wann er vor der eigenen Haustür aufsetzt. Und schon hat man seine Bescherung.

Auch politisches Warten kommt schlecht an. Manche Staatsmänner und -frauen sitzen die brennendsten Themen dennoch ewig lange aus, bevor sie anfangen, sich zu bewegen. Kohl beherrschte das, Merkel lernte es von ihm und Scholz praktiziert es auch. Solche Persönlichkeiten scheint es nicht zu kratzen, wenn Gegner sie

als Zauderer an den Pranger stellen. Das liegt daran, dass sie begriffen haben: Friede auf Erden ist nicht mit einem Mausklick zu ordern, wohl aber mit einer falschen Bewegung zu sprengen.

Beharrliches Warten wird oft mit lethargischer Rumsitzerei verwechselt. Dabei ist das Abwarten und dann die richtigen Fäden zu ziehen, eine Lebenskunst. Dem US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr war das bewusst, als er in den 1940er Jahren schrieb: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Ein großer Wunsch, für dessen Erfüllung wir selbst etwas tun müssen. Der Advent kann uns helfen. Sein Name kommt vom lateinischen Wort Adventus, das Ankunft heißt. Gemeint ist die Ankunft des Kindes, dessen Geburt wir Weihnachten feiern. Indem wir hin und wieder in adventlicher Stille warten, kann etwas Seltenes passieren: dass wir bei uns selbst ankommen.