Was ist wirklich wichtig? Was bleibt am Schluss? Was nehme ich mit? Sich diesen Fragen zu stellen ist nicht einfach. Das Cloppenburger Hospiz wanderlicht konfrontiert eine Reihe von Menschen aus der Region dennoch ganz offensiv mit diesen Fragen. wanderlicht lud Menschen unterschiedlichster Herkunft ein, ihren ganz persönlichen Koffer für ihre letzte Reise zu packen. Die Koffer sind in einer Ausstellung des Kulturbahnhofs Cloppenburg zu sehen. Ihre Inhalte sind so unterschiedlich wie die Männer und Frauen, die sie aus ihren unterschiedlichen Biografien heraus und mit ihren ganz persönlichen Träumen und Weltanschauungen zusammengesucht haben.
Ich freue mich sehr darüber, dass die Initiatoren der Ausstellung auch mich eingeladen haben, meinen Koffer zu packen. Da ich mich mit diesem Thema schon häufig auseinandergesetzt hatte, musste ich kaum eine Sekunde lang darüber nachdenken, womit ich meinen Koffer füllen würde. Was ich auf meiner letzten Reise bei mir haben möchte, sind außer einem Stift und einem Heft für Notate ein paar tote Begleiter. Und wer die sind, das habe ich für die Ausstellungsbesucher aufgeschrieben. Zu lesen ist es an der Wand neben meinem Koffer und hier:
Meine toten Begleiter
Ich habe so einige tote Begleiter. Einige von ihnen sind bereits vor 30, 40 Jahren gestorben. All diese Menschen sind für mich viel mehr als eine schöne Erinnerung. Sie sind Baumeister und -meisterinnen dessen, was ich bin. Sie haben einst etwas gesagt oder getan, das mich aufhorchen ließ. Manches hat mich so beeindruckt, dass ich es mir nie merken musste: Es hat sich in meine Erinnerung geritzt. Und nicht nur das: Ihr Denken, ihre Äußerungen, ihre Art zu leben haben mich angesteckt. So, dass ich mich an ihrem Wesen noch heute orientiere. Das will ich auch auf meiner letzten Reise tun, mich an ihnen orientieren. Darum nehme ich sie mit.
Immer wieder kommt mir in den Sinn, wie wunderbar es doch wäre, wenn sie mitbekämen, welche Rolle sie nach all der langen Zeit für mich noch immer spielen, wenn sie wüssten, dass sie in mir präsent sind, und dass ich mir einen Teil ihres Seins für mich abgekupfert habe. Ich fühle mich bereichert, wenn mir bewusst wird, wie sehr diese längst verstorbenen Männer und Frauen in mir ihr Leben führen.
Elisabeth zum Beispiel. So habe ich sie nie genannt, ich habe sie zeitlebens gesiezt. Als Jugendlicher saß ich neben ihr auf dem Beifahrersitz. Wir düsten mit 170 über die Autobahn, sie hielt ihr Lenkrad einhändig, ihr Blick zielte geradeaus. Sie fragte mich, wie es nach meiner Lehre weitergehe. Ich sagte, ich fände es toll, mein Abi nachzuholen, sei mir aber nicht sicher, ob ich das schaffen würde. Mit unverändertem Geradeausblick sagte sie: „Andreas, du kannst alles, was du willst, du musst es nur richtig wollen.“ Diese Aussage war eine Dröhnung in meinem Leben. Damals fehlte es mir nämlich noch arg an Selbstbewusstsein. Und da ich große Stücke von dieser klugen bis weisen Frau hielt, verpuffte ihr Satz nicht in mir. Er wurde zum Gaspedal in meinem Leben.
Oder Gerda: Ich lernte sie in meiner Kindheit kennen, geriet aber erst vor ein paar Jahren so richtig mit ihr in Kontakt. An ihrem Kaffeetisch sagte sie mir, dass sie bald sterben müsse. Ich war geplättet. Nicht nur wegen dieser Aussage, mindestens ebenso sehr wegen ihrer völlig gelassenen, ja, fast fröhlichen Ausstrahlung. Vorsichtig fragte ich sie, ob sie Angst habe. Sie sagte: „Nein, ich habe ja ein sehr langes und auch gutes Leben gehabt.“ Es fiel mir nicht schwer, ihr zu glauben, und ich habe die Ahnung, dass ihre Art aufs Leben zu schauen mir hilft, wenn meines mal zu Ende geht.
Und noch ein Mensch, der meinem Denken neue Farben gab: Ewald. Er war mein Kollege und erkrankte mit etwas über Vierzig schwer an Parkinson. Ich bekam sein jahrelanges Leiden mit. Oft intensiver als ich wollte. Manchmal fragte ich ihn, wie es diesmal in der Uniklinik war und wie es ihm nach der neuen Behandlung gehe. Und er, dessen Antwort ich wegen seiner schrecklichen Gesichtszuckungen kaum verstehen konnte, sagte mir: „Ach, weißt du, mir geht es gut.“ „Wie das?“, fragte ich. „Im Wartezimmer saß eine junge, richtig attraktive Frau. Sie war noch viel schlimmer dran als ich. Und da habe ich begriffen, dass es bei mir doch kaum was zu klagen gibt.“
Die Erinnerung an ihn ist für mich wie eine Brille. Sie hilft mir oft, nicht nur das zu sehen, was mich ärgert und belastet. Durch sie sehe ich auch, was mich Schönes umgibt.
Diese und noch eine ganze Reihe weiterer Menschen sind in meinem Kopf beziehungsweise Herzen. Darin haben sie mehr Raum als in jedem Koffer. Und von dort aus werden sie mir lautlos Mut machen, den Weg ins Unbekannte zu gehen. Sie alle gehören zwar meiner Vergangenheit an, aber die ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen, denn sie lebt in mir.