Das elfte Gebot

OM-Medien-Kolumne April

Manchmal sieht es so aus, als hätten wir den Zehn Geboten im Laufe der Zeit ein elftes untergeschoben. Das lautet: „Du sollst nicht leiden.“ Schließlich ist es uns gelungen, nach und nach die härtesten Knochenjobs verschwinden zu lassen. Die erledigen – zumindest in der westlichen Gesellschaft – Maschinen für uns. Die meisten körperlichen Schmerzen ersticken wir durch Medikamente im Keim, seelische bezwingen wir mit Beruhigungsmitteln und Antidepressiva. Unsere Lebensumstände werden also immer geschmeidiger. Könnte man meinen. Tatsache ist aber, dass immer mehr Menschen in eine Krise geraten. Sie zweifeln an der Welt und auch an sich. Das belegen Studien der Universität Innsbruck. Sie zeigen, dass sage und schreibe 23 Prozent der 18- bis 29-Jährigen unter einer Sinnkrise leiden. Ihre Zahl ist nicht erst in Zeiten von Pandemie, Klimakrise und Kriegen sondern bereits seit 15 Jahren rasant gestiegen.

Tatjana Schnell ist Psychologieprofessorin in Innsbruck und Oslo. Sie forscht seit über 20 Jahren zum Thema Lebenssinn. Wenn Leiden heutzutage als unzumutbar und überflüssig angesehen wird, hält sie das für problematisch, „weil wir damit den Zugang zu einer zutiefst menschlichen Dimension verlieren.“ In ihren Augen ist es erforderlich, das Leiden zu akzeptieren und ihm auf den Grund zu gehen. Vor allem dadurch werde in der Sinnkrise ein klarer, ernüchterter Blick auf das Leben und auf die eigene Person möglich, sagt sie in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Gewiss seien derartige Selbstvergewisserungen schmerzhaft, aber auch im wahrsten Sinne des Wortes notwendige Prozesse. Denn wenn eine Not entstanden sei, könne die Krise die Not wenden. 

Tatjana Schnell zitiert in diesem Zusammenhang den Philosophen Søren Kierkegaard.  Er unterscheidet zwischen den Begriffen „Leid“ und „leiden“. Denn das Leid widerfahre uns, zu leiden hingegen sei unsere Art des Umgangs damit. Leiden ist also eine Aktivität. Das heißt – so zynisch das klingen mag -, wir können unsere Haltung zum Erlittenen hinterfragen und korrigieren. 

Wer in einer Sinnkrise steckt, fühlt sich allein. Und das selbst dann, wenn er um die hohe Zahl derer weiß, die Ähnliches erleiden. Das liegt daran, dass kaum jemand über persönliche Krisen spricht. In solchem Vertuschen entsteht der Eindruck, der Rest der Welt halte das Leben für leicht und so präzise planbar, dass ihm nichts in die Quere kommen kann. Wer das nicht schafft, schlägt sich mit einem ramponierten Selbstwertgefühl durch seine Zeit.  

Üblich ist es in solchen Situationen, sich beruflich extrem ins Zeug zu legen. Auch für den Preis, dass man sich heftig verbiegt. Das wird in Kauf genommen, um Anerkennung zu erhalten und den eigenen Wert aufpoliert zu sehen. Aber verbogen kann keiner mehr aufrecht gehen. Hilfreicher finde ich den Vorschlag des japanischen Philosophen Ichiro Kishimi. In seinem Bestseller „Du musst nicht von allen gemocht werden“ antwortet er auf die Frage, wie um alles in der Welt man es schafft, das Gefühl zu gewinnen, dass man Wert hat: „Es ist recht einfach. Wenn man weiß, dass man etwas Positives zur Gemeinschaft beiträgt, kann man sich wahrhaft als wertvoll empfinden.“ Also nicht darauf aus sein, von anderen als „gut“ beurteilt zu werden, sondern aus der eigenen subjektiven Sicht zu erleben, dass man zum Wohl anderer etwas beiträgt.