Unter Wölfen

Gastkolumne in OM-Medien, Münsterländische Tageszeitung und Oldenburgische Volkszeitung am 15. Februar.

Nette Menschen kommen ja (vermutlich) in den Himmel, aber die Ziele von Halunken sind auch nicht unattraktiv. Schließlich kommen gerade sie überall hin. Das gelingt ihnen nicht immer, aber sehr, sehr oft. Letzteres scheint zu einer grassierenden Binsenweisheit geworden zu sein, die auch simpelste Gemüter mit Löffeln gefressen haben. Woher sonst weht der scharfe Wind, der die Freundlichkeit von den Straßen, aus der Politik und aus den sozialen Medien gefegt hat!? Das zwischenmenschliche Klima ist bissig geworden, und die Freundlichkeit scheint nur noch Sache der Schwachen und Naiven zu sein. Da keiner schwach und naiv sein will, ist es für jeden verführerisch, anderen auf ihrem Egotrip zu folgen.

Und dann? Das will ich mir gar nicht ausmalen. Stattdessen sage ich mir, dass Freundlichkeit gerade in Zeiten bissiger Egomanie wie eine Flasche Wasser auf einer Wüstentour wirken kann. Wir sollten unsere Flaschen zischen lassen – und das aus einem durchaus egoistischen Grund. Denn Freundlichkeit und gesunder Egoismus sind keine Gegensätze. Sie gehen Hand in Hand. Das heißt, wer Freundlichkeit gibt, bekommt sie entgegengebracht – und sieht sein Gegenüber in wärmerem Licht.

Klar, das klappt nicht immer, aber meistens. Wer es nicht glaubt, sollte es ausprobieren. Der nächste Supermarkt ist nur eines von unzähligen Versuchsfeldern. Wenn dort die Aushilfskraft Waren ins Regal wuchtet, muss ich nicht stumm vorbeigehen. Ich kann ihr auch sagen, dass ich ihr für den Rest dieses Tages nur noch leichte Momente wünsche. Dadurch wird ihr Job nicht einfacher, aber sie tut ihn leichteren Herzens. Zumindest in dem Moment, in dem sie gar nicht anders kann, als mich erfreut anzuschauen.

Demagogen, Populisten und Diktatoren, die davon träumen, wie zu Zarenzeiten zu herrschen, mögen keine Freundlichkeit. Sie schadet ihrem Geschäft. Also pumpen sie Misstrauen und Hass ins Land. So können Unfreundlichkeit und eine politische Kultur der Kaltblütigkeit gedeihen. Wer das nicht sehen will, geht Populisten in die Falle. Dort lernt er zu hassen und zu werden wie sie. 

Kann ich der Falle entgehen? Ja, indem ich versuche, in meinem ganz eigenen Umfeld achtsam und freundlich zu sein. Das ist kein Rückzug, das ist Aktivität, die Beachtung findet. Denn wenn die Mehrheit in ihrem kleinen Bereich etwas tut, kommt am Ende etwas Großes dabei heraus.

Allerdings sollte man nicht lange darüber nachdenken, ob man seine Freundlichkeit herauslässt oder sie sich verkneift. Wieder einmal sind es Harvard-Forscher, die dazu etwas Spannendes herausgefunden haben: Schnelle Entscheidungen, so sagen sie, führen eher zu freundlichem Verhalten. Wer länger nachdenkt, neigt zum Egoismus. Beide Seiten sind in uns lebendig. Wie man am besten mit ihnen umgeht, zeigt eine Parabel: 

Ein Großvater sagte einst zu seinem Enkel: „In mir findet ein Kampf statt, ein Kampf zwischen zwei Wölfen. Einer ist schlecht, böse, habgierig, eifersüchtig, arrogant und feige. Der andere ist gut – er ist ruhig, liebevoll, bescheiden, großzügig, ehrlich und vertrauenswürdig. Diese Wölfe kämpfen auch in dir und in jeder anderen Person.“ Der Junge dachte einen Moment nach und fragte dann: „Welcher Wolf wird gewinnen?“ Der Alte lächelte: „Der Wolf, den du fütterst.“

Und dann das Unfassbare

Gastkolumne in OM-Medien am 27. April

Tausende um mich herum. Dicht gedrängt. Keiner sagt etwas. Weit und breit nichts als kollektiv starres Stieren nach vorne. So, als dürfte hier, vor dem Capitol in Washington, niemand verpassen, was im nächsten Moment geschehen soll. Dann Bewegung zwischen den mittleren Säulen des Portals. Donald Trump betritt eine Bühne. In deren Zentrum hält er inne. Die Luft fängt an zu brennen. Dann das Unfassbare: Dieser Mann geht auf die Knie. Und mit Blick auf seine gefalteten Hände sagte er: „Ich bin hier, um euch um Vergebung zu bitten und um Dank zu sagen. Meinen Dank an alle, die mir ihre Stimme verwehrt haben. Denn ihr seid es, die mich und die Nation vor mir geschützt haben.“

Mehr habe ich nicht mitbekommen. Mein Wecker bimmelte mich in den Wachzustand. Macht aber nichts, man kann ja auch hellwach weiterträumen. Zum Beispiel von Demut und Dankbarkeit. Ich weiß, zwei Begriffe, die heutzutage etwas verstaubt klingen. Wer demütig auf die Knie fällt, so die verbreitete Auffassung, knickt ein. Wer sich nie beugt, gewinnt jeden Kampf und wird von aufblickenden Heerscharen erhöht. 

Kniefälle sind nicht en vogue und gelten schon gar nicht als cool. Und doch gibt es einen Kniefall, der in besonderer Weise Geschichte gemacht hat. 1970 war der damalige Kanzler Willy Brandt nach Warschau gereist. Er wollte einen Vertrag zwischen Polen und Deutschland unterzeichnen. Außerdem war er gekommen, um einen Kranz am Ehrenmal des Warschauer Ghettos niederzulegen. Dann passierte es: Brandt fiel auf die Knie, faltete seine Hände. Keine halbe Minute lang, aber es war eine gefühlte Ewigkeit. Das war nicht geplant, aber es bewegte und überzeugte, wie nur eine Herzensangelegenheit es kann. 

Das zu tun, brauchte Mut. Und zwar den einer ganz bestimmten Art: Sie heißt Demut. Der Autor Tobias Hürter nennt dieses Verhalten in der Wochenzeitung „Die Zeit“ „eine große Geste, nicht weil Brandt sich selbst mit ihr groß machte, sondern weil er mit ihr auf etwas Größeres verwies.“

Das ist der Punkt. Brandt  konnte anerkennen, dass es etwas Größeres gibt als das eigene Ich. Und das waren für ihn die Millionen Morde seines eigenen Landes. Dies ist eine Fähigkeit, die derzeit vielen populistischen Emporkömmlingen auf den politischen Bühnen abgeht. Sie halten Demut für eine Untugend, die allenfalls blöd parierenden Schafen gut steht. Demut ist für sie mit Freiheit und Selbstbestimmung nicht unter einen Hut zu bringen. 

Doch wer demütig seinen Blick zum Boden richten kann, kann sich erden. So einer ist bereit, seine Stärken und Schwächen ebenso zu betrachten wie seine lichtvollen und dunklen Seiten. Er kann akzeptieren, dass die Welt sich nicht um ihn selbst dreht. Demut bedeutet dann, so Tobias Hürter, auf Distanz zu gehen zu den eigenen Zielen, Stärken und Ängsten. „Sie ist eine Art von Realismus. Ein Gegenkonzept zum Egozentrismus.“ Und somit ist Demut eine Voraussetzung für gelingende Gemeinschaft. In solch einem Umfeld kann Dankbarkeit wachsen. Sie zu haben, fühlt sich nicht einfach nur gut an. Sie bringt Menschen auch in Beziehung zu anderen. Und somit ist sie gesund für die Gesellschaft.