Das gefundene Fressen

„Wenn ich diesen Typen nur sehe. Ich könnte den“, sagte der eine Grashalm zum anderen.
„Wen?“
„Den blöden Reiher.“
„Der ist gar nicht so blöd.“
„Ach, komm! Der beachtet uns doch gar nicht. Und wie der geht. Der schreitet doch nur. Wie einer, der ’n Besenstiel verschluckt hat. Total arrogant, dieser Typ.“
„Weiß nicht.“
„Guck dir doch mal dieses Selbstbewusstsein an!“
„Seh ich ja.“ 
„Na also.“
„Aber Arroganz sieht anders aus.“
„Wie denn?“
„Zum Beispiel wie endlos wirkendes Selbstbewusstsein trotz völliger Ahnungslosigkeit. Aber dieser Typ blickt durch. Der weiß, wie er was in den Schnabel kriegt, bevor es die Flucht ergreift: nur vorsichtig staksend.“
„Mir ist die Kuh trotzdem lieber.“
„Warum?“
„Die schaut einen immer so nett an.“
„Klar, weil wir ihr gefundenes Fressen sind.“ ?

Null Respekt

„Vor dir hab ich Respekt“, sagte die Kuh.
„Schön wär’s“, sagte der Stacheldraht.
„Glaubste mir nicht?“
„Ne, denn du hast keinen Respekt vor mir. Dann könntest du mich als deine Grenze achten. Vielleicht sogar richtig mögen. Tuste aber nicht.“
„Sondern?“
„Du hast Angst. So wie alle.“
„Nicht alle. Die Menschen nicht“, sagte die Kuh.
„Die können sogar Grenzen verschwinden lassen.“
„Warum sollten sie das tun?“
„Weil sie sich dann menschlicher fühlen.“ ?

Verzieh dich!

„Wenn du dich nicht auf der Stelle verziehst, kriegstes mit meiner Zunge zu tun“, sagte die Kuh zur Fliege.
„Glaub ich nicht“, sagte die Fliege. „Die und ich, wir kennen uns doch schon ewig.“
„Eben drum. Dann kannste dir ja vorstellen, was dir blüht.“
„Hör mal zu, du Kuh, deine Zunge und ich, wir sind Feinde. Und was kluge Feinde sind, die machen immer hübsch ’nen Bogen um den andern. Freunde kriegen so viel Toleranz nur schwer gebacken.“ ?

Am Abgrund

Ostfriesland, Deich

„Wo willste denn hin?“, riefen sie hinter ihr her.
„Nach vorne.“
„Und warum?“
„Weil ich sehe, dass das mein Weg ist.“
„Dein Weg? Quatsch, jeder geht doch seinen Weg.“
„Aber nicht seinen eigenen.“
„Dann guck mal nach rechts. Du stehst nämlich schon direkt am Abgrund.“
„Oh ja. Und die Aussicht ist grandios.“ ? 

Endlich mal hängen lassen

„Ich weiß wirklich nicht, wie man so an seiner Kuh hängen kann“, sagte die Mücke zum Schwanz.
„Das hat was mit Liebe zu tun“, sagte er, „aber davon hast du ja keine Ahnung. Du bist ja nur darauf aus, in alles reinzustechen, was Beine hat.“
„Mit Liebe? Wieso liebst du dieses Riesenviech?“
„Weil ich mich bei meiner Kuh nicht ständig aufrichten und abrackern muss. Bei ihr kann ich mich ruhig mal hängen lassen. Die lässt mich nie los.“ ??

Haben den Befehl von oben nicht gehört

Wenn ich mir die so anschaue, denke ich, ihre Haare haben den Befehl von oben nicht gehört. Vielleicht haben sie auch einfach nur stumpf weggehört. Denn irgendwann, als Gott sprach, es werde Licht, haben meine unverzüglich und auf der Stelle reagiert und pariert. Manche nennen das Gottesfürchtigkeit. Ich Hörigkeit. Aber seit meine Haare nicht mehr über den Ohren hängen, bilde ich mir ein, besser zu hören. Und zwar nicht nur Gottes Wort. ???

Auch das merkt sie, die Kuh

Man kann ihn natürlich einfach nur ansehen. Man kann ihn aber auch streicheln. Man kann sich sogar auf ihn legen, auf diesen Rücken. Rein theoretisch. Wer das will, sollte die Besitzerin solch sanfter Hügelkette allerdings nicht für eine blöde Kuh halten. Das würde sie spüren, die Kuh. Sofort. Und dann würde nix mehr werden aus der Rumlümmelei in weich behaarten Rückentälern. In einem solchen Fall am besten nix wie weg. Wenn das nicht geht, unverzüglich mit dem Rücken zur Wand. Von dort aus schaut man sie an. Blickt ihr tief in die Augen. So lange, bis man sie mit völlig anderen Augen sieht. Denn auch das merkt sie, die Kuh.