
Gastkolumne in OM-Medien, Münsterländische Tageszeitung und Oldenburgische Volkszeitung am 13. September.
Jahrelang hatten wir alle paar Wochen miteinander telefoniert. Nicht nur, weil sie denselben Beruf hatte wie ich. Wir hatten vor allem gemeinsame Themen. Irgendwann rief ich sie nicht mehr an und ging nicht mehr ans Handy, wenn der Name „Anne“ (Name geändert) im Display aufleuchtete. Zu oft hatte ich Mühe gehabt, sie zu verstehen. Ihre Zunge hatte wie ein mit Alkohol getränkter Schwamm geklungen. Lallend erzählte sie mir von ihren Redaktionskonferenzen bei der „Zeit“ und davon, was sie an Giovanni di Lorenzo als Chef so begeisterte. Wichtigtuerei? Passte nicht zu ihr. Vieles glaubte ich ihr, manches nicht so recht. Es war ihre schlingernde Aussprache, die mich zweifeln ließ. Auch daran, dass ihr Arzt angeblich einen „komischen Befund“ im Kopf festgestellt hatte. Dann die Nachricht, dass sie gestorben war. Sie hatte einen Hirntumor gehabt. Der hatte ihrer Aussprache zugesetzt.
Während unserer Gespräche hatte ich mein Vorurteil flott über sie gefällt. Gewissermaßen hatte ich es sogar ausgesprochen, indem ich mit Schärfe im Ton gefordert hatte: „Bitte deutlicher. Ich verstehe nichts.“
Menschen kurzerhand zu bewerten, passiert beileibe nicht nur mir. Wir alle neigen dazu, anderen im Handumdrehen einen Stempel aufzudrücken. Natürlich können wir gegen den ersten Eindruck nichts machen. Der ist einfach da. Oft ist er uns ein gutes Signal. Wenn wir jemanden als Kotzbrocken empfinden, gibt uns das den Impuls, ihm nicht zu nahe zu kommen. Aber es ist nicht gut, aus dem ersten Eindruck ein Urteil zu fällen. Dann gebenwir so einer widerlich wirkenden Gestalt keine Chance. Was vielfach schade wäre, denn so mancher Herr und so manche Frau Merkwürden entpuppen sich bei aufmerksamer Betrachtung völlig anders.
Uns allen fällt natürlich sofort eine prima Entschuldigung für unsere Urteilsgier ein. Schließlich haben wir es im Laufe des Lebens ordentlich trainiert, ständige Bewertungen und Beurteilungen auszuhalten. Wir alle kennen dieses System bereits seit unserer Kindheit: Schüler werden benotet. Eigentlich beziehen Schulzensuren sich zwar nur auf Leistungen, aber oft beziehen wir sie auf den ganzen Menschen.
Selbstverständlich nehmen wir nicht nur den Wert anderer kritisch unter die Lupe. Klammheimlich sehen wir auch auf die schrägen Typen, die in uns selbst stecken: die Neider, die Angeber, die Unsicheren, die Choleriker, die Ängstlichen, die überflotten Verurteiler … Wir können solche Typen in uns nicht ausstehen. Darum möchten wir sie wegsperren, irgendwo in der finstersten Zelle unserer Seele. Aber ich glaube nicht, dass wir sie so loswerden. Eingekerkert verschwinden sie nicht. Tief in uns machen sie permanent Randale.
Vielleicht sollten wir uns schlichtweg gestehen, dass wir die eine oder andere dieser miesen Eigenschaften haben. Schließlich kann keiner für seine schrägen Gedanken und Gefühle verantwortlich sein. Sie kommen einfach. Aber wir sind verantwortlich dafür, wie wir mit ihnen umgehen. Sie wegzuschieben hilft nicht, denn weit Weggeschobenes ist nicht greifbar. Und sich selbst, eine scheinbar besoffene Anne oder gar die ganze missratene Welt kompromisslos in die Tonne zu hauen, führt auch nicht weiter. Nur die Denk- und Verhaltensweisen, die wir akzeptierend in den Blick nehmen, lassen sich bearbeiten und verändern. Das macht uns nicht zu Hochglanzmenschen, aber zu solchen, die einer verbeulten Gesellschaft Form und Glanz verleihen. Nur so kann ein einigermaßen glückliches Leben funktionieren.
Uns ergeht es da übrigens nicht anders als der Demokratie: Sie lebt von solchen Kompromissen, von Veränderungen, dem Aushalten von Gegensätzen und immer wieder von Versöhnung.



