Eine ganz normale Frage?

Gastkolumne in OM-Medien am 7. Dezember

Es gibt Fragen, die kommen wie Gaffer daher. Sie sind so unangenehm wie jemand, der einem bis in die Umkleidekabine folgt. Eine dieser Fragen taucht insbesondere im Advent in vielen Köpfen auf. Bei einigen Begegnungen schiebt sie sich ganz flott auf die Zunge, und manchmal rutscht sie einem dann einfach heraus. Schließlich möchte man von seinem Gegenüber doch gerne wissen: „Und was machst du so an Weihnachten?“ 

Menschen, die sich auf diese Tage freuen, mag die Frage völlig normal und unverfänglich erscheinen. Ganz anders kommt sie jedoch bei denen an, die mit Beklemmung an solch stimmungsreiche Zeit denken. Sie wittern, dass sie mit ihrer Antwort eine Menge über sich preisgeben. Unter Umständen sogar mehr als gegenüber dem eigenen Spiegelbild. Wie auch immer sie es formulieren, es wird herauszuhören sein, ob ihnen Familie Heimathafen oder nichts als Qualverwandtschaft bedeutet. Ob Geschwister sich miteinander verbunden fühlen, oder ob zwischen ihnen längst Gleichgültigkeit herrscht. Oder ob die, deren Nähe man unterm Weihnachtsbaum ersehnt, nur noch in liebenden Erinnerungen leben. 

Weihnachten gilt als das Fest der Liebe. Aber was ist, wenn ausgerechnet sie zu wenig spürbar ist? Wenn im Licht der Kerzen allzu deutlich sichtbar wird, was an 364 Tagen übersehen, ignoriert, kritisiert, in Grund und Boden geschrien, verraten und vergessen wurde. Wer nur noch das betrachtet, sieht im Fest der Liebe nichts als einen Schaden am Tradionsgetriebe. Doch solches Ignorieren, Vergessen und Verraten passiert uns allen. Es ist hässlich und unter Umständen kaum auszuhalten. – Das ist Leben. 

Ja, und dann gibt es da noch die „Heilige Familie“ in der Krippe unterm Weihnachtsbaum. Heile ist allerdings auch bei ihr nichts. Mit etwa 14 Jahren bekommt Maria ein uneheliches Kind. „Nicht von mir“, meint Josef, ihr Verlobter. Er ist drauf und dran, sich aus dem Staub zu machen. Letztlich bleibt er, weil ein Engel ihn im Traum mit aller Überzeugungskraft bearbeitet hat.  

Und auch all die anderen Familiengeschichten aus der Bibel haben es in sich. Sie sind alles andere als Kuschelprosa. Da geht es um Geschwister, die einander nach dem Leben trachten, um Erbschleicher, um Väter, die ihre Söhne verraten, um ruhmsüchtige und eifersüchtige Typen.

Es gab und gibt also jede Menge zu bejammern. Aber man kann sich auch in Erinnerung rufen, was Weihnachten gefeiert wird: die Geburt Jesu, die Geburt des Christentums. Letzteres lehrt uns: Wir alle sind brillante Scheiterer. – Wenn wir uns das vor Augen halten, kann Weihnachten nur gelingen. Denn jedes völlig falsche Wort unterm Tannenbaum, jeder Rotweinfleck auf der Decke, jede vergeblich erwartete SMS, jede blöde Bemerkung und jede falsch geschätzte Pullovergröße, all das gehört zur Feier des Menschseins. Denn das Menschsein ist keine Sache des Seins, sondern eine des Werdens.

Einfach mal warten

OM-Medien-Kolumne Dezember

Würde mich nicht wundern, wenn die Betreiber von Christbaumkulturen just dabei wären, ihre brancheneigene Hymne zu entdecken. Ich höre schon wie sie singen: „O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie früh sind deine Käufer.“ Eine Umfrage des Portals Statista ergab nämlich nicht nur, dass Menschen in Deutschland ihren Weihnachtsbaum immer früher kaufen. Mehr als die Hälfte stellen ihn auch lange vor Heiligabend in ihrer Wohnung auf: bereits Anfang bis Mitte Dezember.

Von wegen warten aufs Christkind. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich am Nachmittag eines Heiligabends im kleinen Lloyd unserer Nachbarn landete. Mein Vater hatte mich da reingeschoben. Da saß ich neben Maria, Bernhard und Hermann-Josef. Das waren die Kinder von nebenan. Am Steuer saß ihr Vater, den ich dafür bewunderte, wie er als Kriegsversehrter mit seinem Holzbein so prima Gas geben konnte. Wir fuhren nicht weit. Nur bis zum Christkindchenweg in Cloppenburg. Dort stiegen wir aus, liefen durch den angrenzenden Wald und waren uns sicher, irgendwo dort das Christkind zu entdecken. So richtig sehen konnten wir es nicht. Das lag aber nur am Dickicht und an der aufkommenden Dunkelheit. Doch wir fühlten es. Ganz genau. Zurück zu Hause gab es keine Zeit mehr, über dieses mystische Erleben nachzudenken. Ein Glöckchen erklang, und ich war wie geplättet, als ich den funkelnden Tannenbaum im Wohnzimmer erblickte.

Schnee von gestern? Nein, von vorvorgestern. Sentimentaler Schneematsch könnte man sagen. Heute herrschen andere Temperaturen. Die werden von einer Konsumwelt bestimmt, in der das geduldige Abwarten nicht gut ankommt. Kunden sollen nicht warten. Ihre Wünsche sollen auf der Stelle in Erfüllung gehen. Gewissermaßen tun sie das sogar bei Online-Bestellungen, denn da passiert sofort etwas. Auf dem Handy ist genau zu sehen, wie oft wir noch schlafen müssen, bis der Paket-Engel zu uns kommt. Oft nur bis zum nächsten Tag. Per Handy kann man sogar seine Flugroute erkennen und exakt mitverfolgen, wann er vor der eigenen Haustür aufsetzt. Und schon hat man seine Bescherung.

Auch politisches Warten kommt schlecht an. Manche Staatsmänner und -frauen sitzen die brennendsten Themen dennoch ewig lange aus, bevor sie anfangen, sich zu bewegen. Kohl beherrschte das, Merkel lernte es von ihm und Scholz praktiziert es auch. Solche Persönlichkeiten scheint es nicht zu kratzen, wenn Gegner sie

als Zauderer an den Pranger stellen. Das liegt daran, dass sie begriffen haben: Friede auf Erden ist nicht mit einem Mausklick zu ordern, wohl aber mit einer falschen Bewegung zu sprengen.

Beharrliches Warten wird oft mit lethargischer Rumsitzerei verwechselt. Dabei ist das Abwarten und dann die richtigen Fäden zu ziehen, eine Lebenskunst. Dem US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr war das bewusst, als er in den 1940er Jahren schrieb: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Ein großer Wunsch, für dessen Erfüllung wir selbst etwas tun müssen. Der Advent kann uns helfen. Sein Name kommt vom lateinischen Wort Adventus, das Ankunft heißt. Gemeint ist die Ankunft des Kindes, dessen Geburt wir Weihnachten feiern. Indem wir hin und wieder in adventlicher Stille warten, kann etwas Seltenes passieren: dass wir bei uns selbst ankommen.