Wenn du wärst wie die andern

Hätte dich wohl nie beachtet, 
wenn du wärst wie die andern, 
so kerzengerade 
wie’s erwünscht.
Dein Anderssein ist’s, 
das meinen Blick zu dir zieht, 
das mir vom Wind erzählt, 
der einst dich gesät, 
und vom Sturm, der dich gebeugt, 
von denen, die entwurzelt 
und zerrissen 
längst das Feld geräumt. 
Dich beachtend säst du Achtung in mir. 
Achtung vor dir.

Das hat mir noch kein Reifen gesagt

„Was ich dir immer schon mal sagen wollte“, sagte der Reifen, „ich liebe deine Formen. Die machen mich total an.“
„Oh, das hat mir ja noch kein Reifen gesagt“, sagte der Kotflügel. „Du bist wirklich ein Engel.“ 
„Nee, bitte nicht!“, sagte der Reifen.
„Wieso? Ist doch toll, immer nur rumzufliegen.“ 
„Na, weiß nicht. Bin mir ja nicht so sicher, ob so ’n Engel auch Kotflügel hat. Wenn ja, dann muss sein Job ganz schön beschissen sein.“ ?

Klar sehen mit geschlossenen Augen

„Du, ich muss dir was sagen“, sagte das linke Huhn.
„Au ja“, hauchte das rechte, „lass alles raus! Ganz ohne Hemmungen.“
„Ich weiß aber nicht, ob du das wirklich hören willst.“
„Och bitte, nu sag schon! Du machst mich ja ganz kribbelig.“
„Also gut: Sobald ich mich hier zärtlich an dir abrackere, schließt du die Augen. Das törnt mich total ab.“
„So kann ich doch viel besser von dir träumen.“
„Auf mich wirkt das aber anders.“
„Wie denn?“
„Wie Augen zu und durch. So kriegste doch gar nicht richtig mit, was mit dir geschieht.“
„Doch. Nun rede nicht so viel, mach einfach weiter!“
„Nur wenn du die Augen aufmachst.“
„Dann sehe ich aber doch nur, was ich immer sehe.“
„Was willste denn damit sagen?“
„Dass ich mit geschlossenen Augen mehr mitkriege.“
„Wie bitte?“
„Ja, nur spürend kriege ich ne richtig tolle Ahnung davon, wie du mich mit deinen Augen siehst.“ ??

Jeden Tag dasselbe

„Ich versteh die nicht“, sagte die Sonne.
„Wen verstehste nicht?“, fragte die Wolke.
„Die da unten. Ist doch jeden Tag dasselbe: Sobald ich ’n Abgang mache, stehn sie da, sagen nichts mehr, staunen nur noch.“
„Freu dich doch“, sagte die Wolke, „das schafft nicht jeder.“
„Was, gesehen zu werden?“
„Nein, die da unten so zum Staunen zu bringen, dass es ihnen die Sprache verschlägt.“
„Ja gut, aber was haben sie davon?“
„Dich wortlos bestaunend entdecken sie eine neue, ganz stille Sprache: die ihrer Menschlichkeit.“ ??

Reif

„Blöder Baum“, sagte der Apfel.
„Wieso blöder Baum? Was haste denn gegen den?“, fragte der andere.
„Ich fühl mich total fallengelassen.“
„Versteh ich nicht.“
„Was gibt’s denn da zu verstehen?! Monatelang macht er einen auf anhänglich. So, dass man an die große Liebe glaubt. Und dann war’s das.“
„Nix da, der hat uns noch viel lieber als du glaubst.“
„Ha, ha, ha! Und warum lässt er uns dann einfach los?“
„Weil er akzeptiert, dass wir reif sind und ihn nicht mehr brauchen.“ ?

Diese Offenheit

„Steht dir richtig gut“, sagte der Baum.
„Was?“, fragte das Fenster. 
„Deine Offenheit.“
„Was findste denn daran so schön?“
„Dass ich endlich mal nicht nur dein Äußeres sehe.“
„Magste mein Äußeres denn nicht?“
„Doch, durchaus, aber was ich jetzt entdecke, ist was ganz Besonderes.“
„Was denn?“
„Die Schönheit, die in dir ist.“

Und dann macht sie die Flatter

„Ich finde, unsere Freundschaft ist echt was Besonderes“, sagte die Schwalbe.
„Aha“, sagte das Seil.
„Was heißt hier Aha?! Ist dir wohl völlig egal, dass ich auf dich fliege?“
„Nö. Frag mich nur wieso?“
„Weil ich bei dir immer landen kann.“
„Aber nur weil du es schaffst, bei mir runter zu kommen, bist du doch nicht meine Freundin.“ 
„Na hör mal, was bin ich denn für dich?“
„Schön. Und irgendwie auch elegant.“
„Wie, mehr nicht?!?!“
„Doch, ’n richtig schöner Zugvogel bist du.“
„Was willste denn damit sagen?“
„Dass du die Flatter machst, sobald es hier zu ungemütlich für dich wird.“ ?

Ebbe

„Wenn ich dich so ansehe, denke ich, dass wir ganz prima zusammenpassen“, sagte der Himmel zur Nordsee.
„Das Gefühl hab ich auch. Aber wieso eigentlich, wo doch jeder von uns sein ganz eigenes Ding macht?“ 
„Das ist ja genau der Punkt“, sagte der Himmel: „Jetzt machste einen auf Ebbe, und dann kommste als Flut dahergefegt.“ 
„Und du?“, fragte die Nordsee.
„Siehste doch. Im Moment bringe ich den Tag, etwas später die Nacht.“
„Und wem bringt das was?“
„Den Menschen.“
„Wieso?“
„Weil jeder von denen auf Suche nach der Ewigkeit ist.“
„Ach so. Und wo ist die?“
„Im stetigen Wandel. Also in dir und in mir.“

Ruhe im Gestrüpp

„Ich finde, das steht dir nicht“, sagte das Gestrüpp.
„Was?“, fragte der Reifen.
„Hier so rumzustehen.“ 
„Musst du gerade sagen. Kommst doch auch nicht von der Stelle.“
„Ist ja auch nicht meine Aufgabe“, sagte das Gestrüpp, „aber deine schon.“
„Wieso?“
„Bewegte Typen wie du müssen rotieren. Hast wohl noch nie gehört, was andere so sagen.“
„Nee, was denn?“
„Dass der Weg das Ziel ist.“
„Aber wenn das immer so ist, komme ich ja nie zum Innehalten.“ 
„Ja und? Was haste denn davon, unbewegt hier rumzustehen?“
„Jetzt, wo ich stehe, fühl ich mich wie noch nie. Ganz bewegt.“
„Wie das denn?“
„Weil ich erst im Ruhemodus merke, wo ich stehe. Und was ich hier sehe, finde ich wunderschön.“ ?

Das gefundene Fressen

„Wenn ich diesen Typen nur sehe. Ich könnte den“, sagte der eine Grashalm zum anderen.
„Wen?“
„Den blöden Reiher.“
„Der ist gar nicht so blöd.“
„Ach, komm! Der beachtet uns doch gar nicht. Und wie der geht. Der schreitet doch nur. Wie einer, der ’n Besenstiel verschluckt hat. Total arrogant, dieser Typ.“
„Weiß nicht.“
„Guck dir doch mal dieses Selbstbewusstsein an!“
„Seh ich ja.“ 
„Na also.“
„Aber Arroganz sieht anders aus.“
„Wie denn?“
„Zum Beispiel wie endlos wirkendes Selbstbewusstsein trotz völliger Ahnungslosigkeit. Aber dieser Typ blickt durch. Der weiß, wie er was in den Schnabel kriegt, bevor es die Flucht ergreift: nur vorsichtig staksend.“
„Mir ist die Kuh trotzdem lieber.“
„Warum?“
„Die schaut einen immer so nett an.“
„Klar, weil wir ihr gefundenes Fressen sind.“ ?