Weil auch welke Wesen dürsten

„Ich hab auch schon mal was Frischeres als dich gesehen“, sagte die Vase zur Blüte.
„Und warum schaust du mich dann dauernd an?“
„Frag ich mich auch“, sagte die Vase.
„Wie, du weißt es nicht?“
„Doch, eigentlich schon, aber irgendwie auch nicht.“
„Vielleicht findest du mich ja einfach schön. Trotz meines Alters“, sagte die Blüte.
„Geht doch gar nicht. Andererseits, irgendwie fühlt sich das so an.“
„Wieso meinst du, dass das nicht geht?“
„Hast wohl vergessen wie alt du bist. Wo soll denn da noch Schönheit herkommen?“
„Ich glaube aus meinen Träumen, aus meiner Hoffnung.“
„Und wovon träumst du?“
„Von jemandem, der mich gern sieht.“
„Wieso?“
„Weil auch welke Wesen dürsten.“

Einfach mal Köpfe heben

„Sag mal, findet ihr mich wirklich so verdammt schön?“, fragte die Erde die Narzissen.
„Wie kommste denn darauf?“
„Mein ja nur. Kann natürlich auch sein, dass ihr einfach unheimlich viel im Schädel habt.“
„Hä?“
„Tja, warum guckt ihr sonst ständig mit hängendem Kopf zu mir runter?“
„Bei dem kalten Wetter? Was solln wir denn sonst tun?“
„Ich würde ihn ja einfach mal heben, den Kopf.“
„Und warum?“
„Weil man dann was Neues entdeckt und über vieles hinwegsehen kann.“

Der Schräge

„Glaubst du wirklich, dass du hier hingehörst“, fragte einer der Aufrechten den Schrägen. „Glaub schon“, sagte der Schräge. „Wieso?“
„Schau dich doch mal um, hier steht man gerade.“
„Hab ich schon gesehen. Aber einfach nach oben ist halt der schnellste Weg zum Licht.“
„Nicht nur das“, sagte der Aufrechte, „man macht auch ’ne bessere Figur.“
„Ach so“, sagte der Schräge, „ich dachte schon eure Haltung wär ’n Strammstehen vor der Sonne.“
„Strammstehen? Wir sind halt integriert. Was man von dir nicht gerade sagen kann.“
„Macht doch nichts“, sagte der Schräge. „Integration ist ’ne prima Sache, klingt aber so vornehm, dass ich manchmal misstrauisch werde.“
„Warum?“
„Weil dahinter ’ne Anpassung steckt, die ich lieber Unterwerfung nennen würde. Nicht immer. Aber ab und zu. Und ziemlich oft.“ ?

Nachttopf-Traum

„Träumste eigentlich auch manchmal davon, ein anderer zu sein?“, fragte der Nachttopf das Bett.
„Nö.“
„Ich schon.“
„Was wärste denn gern?“
„Ne Urne, das würde mir gefallen.“
„Wie bitte?“
„Ne, nich so eine fürn Friedhof. Ne Wahlurne wär ich gern.“
„Wieso das denn?“
„Weil dann jeder seine Geheimnis in mich reinfallen ließe.“
„Stell dir das nicht so lustig vor.“
„Wieso?“
„Du kannst Pech haben, und es landet lauter brauner Mist in dir. Und dann wärste unterm Strich nichts anderes als ’ne Urne, in der sämtliche Wählerhoffnungen zu Grabe getragen werden.“ 

Nur von innen zu öffnen

„Ich würde was drum geben, ein Mensch zu sein“, sagte die Tür zum Haus.
„Wieso?“
„Weil Menschen jeden reinlassen können. Ich kann das nur, wenn mich einer aufschließt.“ „So einfach ist das nicht. Ins Haus schaffen es viele, aber ins Herz nur wenige.“
„Wieso?“
„Weil das nur von innen geöffnet werden kann.“ ?

Im Raum aus Gold

„Keine Ahnung, ob das Kunst ist“, sagte ein Ausstellungsbesucher zum anderen, „aber eins weiß ich sicher: Weg kann das nicht.“
„Wie meinste das?“
„Guck doch mal: ein ganzer Raum aus Gold. In totaler Schlichtheit. Hat ’ne enorme Ausstrahlung. Wirkt irgendwie überirdisch schön.“
„Klingt nach Vollkommenheit“, sagte der andere.
„Ja, das passt.“
„Und wenn man dann bedenkt, dass Gold ein Zeichen für Ewigkeit ist.“
„Vollkommenheit, die gibt’s aber doch gar nicht“, sagte der andere.
„Bei uns nicht. Die ist ’ne Dimension des Himmels.“
„Warum redet man dann so viel darüber?“
„Weil wir Himmlisches anstreben. Ist ja auch gut so. Täten wir das nicht, würden wir nie so viel Supergutes hinkriegen.“
„Aber was hat den Künstler James Bee Byars geritten, einen ganzen Raum aus Gold zu schaffen?“
„Der hat noch mehr getan. Kurz vor seinem Sterben legte er sich todkrank mitten hinein. Kannst du die fünf Kristalle da unten erkennen?“
„Ja, was ist damit?“
„Die hat seine Galeristin genau da ausgelegt, wo er lag. Als sie ihm wieder auf die Beine half, sagte er, er habe sich da unten in den Tod eingeübt. Hat sich also mit himmlischer Vollkommenheit und Ewigkeit beschäftigt.“
„Das könnten wir auch machen. Am besten mitten im Leben.“
„Los, packen wir’s!“ 

„Da fall ich lieber vorher tot um“

„Siehst ganz schön alt aus“, sagte der junge Baum zum alten.
„Bin ich ja auch.“
„Und wie hältste das aus? Also ich will nicht so enden. Da fall ich lieber vorher tot um.“
„Hab doch nichts auszuhalten“, sagte der Alte, „jedenfalls nichts Schlimmes.“
„Und was ist mit der Einsamkeit? Hier ist doch nichts los.“
„Das war ja nicht immer so. Früher waren wir viele. Sehr viele.“
„Das mein ich doch. Heute ist kaum noch einer da, nur die Einsamkeit.“
„Und die Ruhe“, sagte der Alte. „Seit die da ist, komme ich zu mir selbst.“
„Aha. Und wenn dich mal was runterzieht, hilft dir keiner wieder hoch.“
„Stimmt, aber die Ratschläge anderer führen mich nicht zu mir selbst.“
„Das ist mir zu hoch“, sagte der junge Baum.
„Alle, die mir früher halfen, hatten gute Absichten, denn sie hatten mich gern. Aber auch sie waren nicht glücklich. Sie rieten mir zu dem, was sie gelernt hatten. Zu anderem konnten sie mir nicht raten.“
„Immerhin“, sagte der junge Baum.
„Zu viele gaben mir ihre Lebensauffassung mit, durch die sie selbst nicht glücklich wurden.“
„Aber wie soll es anders gehen?“
„Indem man diese Kette bricht. Aber tut man es, fühlen sich deine Ratgeber nicht geachtet, denn du lehnst es ab, ihr Leben zu führen.“
„Anders geht es doch gar nicht.“
„Doch, indem man sich seiner selbst bewusst wird. Und das gelingt nur in der Stille.“
„Und dann?“
„Dann macht man die größte aller Erfahrungen: die der eigenen Einmaligkeit.“

Sie nimmt die Falschen mit ins Bett

„Sie hielt’s nicht bei mir aus. Hab wohl wieder alles falsch gemacht“, sagte das Bett.
„Stimmt nicht.“
„Woher willste das wissen?“
„Hab doch alles mit angesehen“, sagte das Fenster.
„Was hast du gesehen?“
„Dass sie die Falschen mit ins Bett nimmt. Mit denen kann keiner ruhig schlafen.“
„Pardon, sie war allein“, sagte das Bett.
„War sie nicht. Ihre Unzufriedenheit war bei ihr.“
„Okay, aber die wird man nicht einfach los.“
„Man kann sie fallenlassen.“
„Aha. Wie denn das?“
„Sehen, dass sie sinnlos ist. Alle Unzufriedenheit. Versuch mal, sie zu befriedigen. Die wird nur gefräßiger.“
„Was frisst sie denn?“, fragte das Bett.
„Das Heute.“ 

Windiges Vorurteil

„Die ist doch völlig willenlos“, sagte der Wind zur Wolke.
„Wer?“
„Die Mühle da unten. Bei der muss ich nur mal etwas lauter atmen, und schon macht die was ich will: läuft und läuft und läuft. Eine wie die hat echt das Zeug zum Mitläufer.“
„Träum weiter“, sagte die Wolke. „Mitläufer finden jede Richtung okay, aber sie stellt sich dir entgegen und macht Energie aus deiner Kraft.“

Zu nahe

„Darf ich mal ganz ehrlich sein?,“ sagte der eine Baum zum anderen.
„Klar, immer. Weißt doch, wie ich es liebe, wenn du ganz offen bist. Also sag schon!“
„Ich finde einfach, du gehst zu weit.“
„Wie meinst du das?“
„Du kommst mir zu nahe.“ ??