
Gastkolumne in OM-Medien, Münsterländische Tageszeitung und Oldenburgische Volkszeitung am 5. Juli
Kann doch gar nicht sein. Das war lange Zeit mein Gedanke, nachdem man mir als Kind von der göttlichen Großbaustelle namens Welt erzählt hatte. Okay, der einstige Bauleiter hat sein Projekt ohne Durchhänger binnen sechs Tagen durchgezogen. Das ist im Schöpfungsbericht der Bibel nachzulesen. Aber dass einer, der über Allmacht verfügt, am siebten Tag eine Auszeit braucht, ging mir nicht in den Kopf. Das passt da auch heute noch nicht rein. Einer, der alles kann, muss doch auch pausenlos weitermachen können.
Mir ist schon klar, was ich da schreibe, mag ketzerisch anmuten, aber mittlerweile habe ich etwas Schönes begriffen: So einer ruht sich nicht aus, weil er befürchtet, dass sonst nichts mehr gehen würde. Der macht das einfach, weil er es will. So findet er Zeit, durchzuatmen und wertschätzend auf das zu blicken, was er bereits erschaffen hat. Und da er auch uns gemacht hat, heißt das, dass auch wir etwas von diesen wertschätzenden Blicken abbekommen.
Häufig tun wir Heutigen so, als wäre die Pause ein göttliches Privileg, das Pimpfen wie uns nicht zustünde. Pausen – im Sinne von Nichtstun – scheinen in digitalen Zeiten vom Aussterben bedroht zu sein. Selbst im Urlaub sind sie rar geworden. Wir lesen Mails, während wir kauen, chatten, während wir netflixen, verteilen Likes, während wir einen Podcast hören, und wenn uns jemand eine Nachricht aufs Display schickt, finden wir es normal, innerhalb von Minuten darauf zu antworten.
Bereits vor über 70 Jahren gab es einen Mann, der sich so sehr um die Pause sorgte, dass er ein wahrlich revolutionäres Konzert inszenierte. Es war der amerikanische Komponist John Cage. Am 29. August 1952 fand in der Maverick Concert Hall in Woodstock die Uraufführung statt. Das Stück besteht aus drei Sätzen, die insgesamt 4 Minuten und 33 Sekunden dauern. Daher sein Titel: „4´33“. Als der Pianist die Bühne betrat und sich an den schwarzen Flügel setzte, deutete noch alles auf einen ganz normalen Konzertabend hin. Doch als er sein Notenwerk vor sich aufgestellt hatte, wurde es merkwürdig. Statt in die Tasten griff er zur Stoppuhr, drückte auf Start, schaute 4 Minuten und 33 Sekunden lang aufs Zifferblatt, drückte dann auf Stopp, klappte den Klavierdeckel zu, verneigte sich und zog von dannen. Zu hören gab es keine konventionellen musikalischen Klänge, nur das Rascheln, Scharren und Räuspern der Konzertgäste. Auf diese Weise hatte John Cage der Pause demonstrativ einen Wert geschenkt.
Wir sollten darauf achten, dass wir nicht nur die Akkus unserer Handys aufladen, sondern auch uns selbst. Jetzt, in der Urlaubszeit, kann es klappen, hin und wieder Pausen zu machen, in denen wir wirklich mal nichts tun. Denn genau betrachtet, ist die Pause nicht nichts. In ihr kann viel geschehen: Die gehetzte Atmung kann sich beruhigen, der hohe Pulsschlag sinken und die angespannten Netzwerke im Gehirn können sich erholen. Und das Schöne ist: Im Urlaub müssen wir dazu nicht um Erlaubnis fragen. Denn das Wort „Urlaub“ hat seinen Ursprung im althochdeutschen Wort „Urloub“, und das bedeutet „Erlaubnis“. Früher ging es um die Erlaubnis, sich von einer Burg oder vom Militärdienst zu entfernen. Heute um die Erlaubnis, endlich mal wieder zu uns zu kommen.