Schwer auszuhalten

OM-Kolumne Juni

Seit Wochen kommt mir ein gruseliger Gedanke: Ich stelle mir vor, engagiert und erfüllt in einem Unternehmen zu arbeiten. Von Anfang an stehe ich voll hinter dessen Konzept. Was ich dort tue und erreiche, ist mir oft wichtiger als mein Gehalt. Und dann kapiere ich, dass eine ganze Reihe meiner Kollegen Verbrecher sind. Ich kann es kaum glauben, ist aber Fakt. Was sie getan haben, kommt glücklicherweise an die große Glocke. So gibt es zumindest die Chance, den Geschädigten zu helfen. Wo ich auch aufkreuze, jeder spricht mich auf den Laden an, für den ich mich einsetze. Ich werde mit Zweifeln betrachtet. Und bald wird für mich das bisher Undenkbare denkbar: Ich muss da weg. Das Geschehene ist ein Alptraum, bedroht aber weder meine wirtschaftliche noch meine seelische Existenz. Ich werde halt einen anderen Job finden.

Katholische Priester sind wegen der sexuellen Straftaten ihrer Kollegen in einer ähnlichen Situation. Sie könnten – wie ich – den Job wechseln. Das ist jedoch blanke Theorie, denn Priester ist man nicht geworden, um ein sicheres Einkommen zu generieren. Priester wird man, weil man für die Leitidee des Unternehmens Kirche brennt und glaubt, mit dieser Idee Menschen zu einem menschlicheren Leben zu verhelfen. Unzähligen gelingt das, unzählige andere aber haben Menschen das Leben zur Hölle gemacht. Letzteres muss zumindest für all die geweihten Arbeitnehmer der Firma Kirche, die Wertvolles leisten, schwer auszuhalten sein. 

Einer aus der obersten Führungsetage des Bistums Speyer hat es nicht ertragen: Generalvikar Andreas Sturm. Er hat die katholische Kirche verlassen. Noch nie ist ein solcher Hierarch gegangen. Sein Abgang ist eine Detonation im Felsen Kirche. Sturms Begründung: „Ich habe Hoffnung und Zuversicht verloren, dass die römisch-katholische Kirche sich wandeln kann.“ Der Titel seines Buches drückt es krasser aus: „Ich muss raus aus dieser Kirche, weil ich Mensch bleiben will.“

Auch in Limburg ist einer gegangen. Auch hier jemand in herausragender Position: Christof May. Er war Regens, also eine Art Ausbilder derer, die zwischen Studium und Weihe im Priesterseminar leben. May hatte im Januar in einer Predigt darüber gesprochen, dass die Missbrauchsopfer aus dem Blick geraten und dann gesagt: „Tagtäglich muss ich um die eigene Bekehrung beten und bitten, dass das, was ich sage, durch mein eigenes Leben gedeckt ist, dass ich das, was ich predige, zumindest immer wieder versuche, umzusetzen. Und jeden Abend auf der Bettkante muss ich sagen: Christof, du hast es wieder nicht auf die Kette gekriegt – und um Verzeihung und Bekehrung bitten für mich selbst.“ May hat sich am 10. Juni das Leben genommen. Am Tag zuvor hatte Bischof Georg Bätzing ihn von seinen Aufgaben entbunden. Er wollte die Vorwürfe klären, die gegen ihn erhoben worden waren.

Andreas Sturm musste raus aus der Kirche, weil er alle Hoffnung verloren hatte. Christof May musste raus aus dem Leben, weil er seine Art zu leben nicht mehr ausgehalten hat. In seiner Predigt sagte er notzitternde Sätze. Sie schrien nach Nähe, Halt, Geborgenheit. Doch das alles ist für Priester im kirchlichen System schwerer zu bekommen als ein Gespräch mit dem Papst. 

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