Mein Oktober-Geständnis

Es waren die Redaktionen von „Münsterländische Tageszeitung“, „Oldenburgische Volkszeitung“ und „OM-Medien“, die mich baten, alle paar Wochen für sie eine Kolumne zu schreiben. Hier mein Oktober-Geständnis. War mir wieder einmal ein Vergnügen.

Zugegeben, auch ich tue es. Immer wieder. Heute ist es mir (glaube ich) noch nicht passiert, aber gestern. Da fragte mich die Tochter eines Freundes, wie ich ihre neue Frisur fände. Wäre ich ganz spontan ehrlich gewesen, hätte ich gesagt: „Entsetzlich.“ Schließlich hatte ich Vivi im ersten Augenblick überhaupt nicht erkannt. Von ihrer bisherigen Haarpracht war ja lediglich der Charme einer Auslegeware geblieben. Fehlte nur das Etikett mit der Aufschrift: „1 Millimeter, rutschfest, pflegeleicht.“ Während ich in ihren nach wie vor anmutigen Gesichtszügen hilflos nach einer salonfähigen Antwort suchte, fiel mir eine ein: „Joaaaa, steht dir.“

Klar, meine Antwort war eine Lüge. Aber eine, mit der ich leben kann, weil ich mir erfolgreich eingeredet habe, meine Schmeichelei sei sowas wie eine Lüge mit Anstand. 

Kann also eine Lüge durchaus eine gute Sache sein? Dann, wenn hinter ihr nicht die Absicht steckt, einen Vorteil einzuheimsen oder eine verbotene Handlung zu kaschieren? Meine Lüge kommt mir geradezu vor wie das Schmieröl eines sozialen Miteinanders. Ein Alltagsleben ohne all die lässlichen Lügen mag ich mir gar nicht vorstellen. Das kann doch nur langweilig und rücksichtslos bis brutal sein.

Solch ein Leben „wäre vor allem ein ziemlich schweigsames“, sagt Simone Dietz in der Neuen Zürcher Zeitung. Die Philosophin habilitierte sich zum Thema „Der Wert der Lüge“ und lehrt an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Den Mund zu halten, wäre vielfach „der einzige Weg, sich nicht ständig selbst zu verraten oder in sinnlose Auseinandersetzungen zu verstricken.“ 

Das klingt fast so, als müsse man die Lüge rehabilitieren. Aber so weit geht die Professorin nicht. Ihr würde es schon reichen, wenn wir die Vermutung äußern dürften, dass ein anderer lügt, ohne dass dies gleich als „moralisches Todesurteil“ aufgefasst würde.

Auch Anja Raden lügt, wenn es ihr darum geht, jemanden nicht zu verletzen. Als US-amerikanische Historikerin und Autorin geht sie der Frage nach, aus welchen Gründen wir lügen und warum wir Unwahrheiten zu oft für bare Münze nehmen. In der Süddeutschen Zeitung nennt sie den Grund für ihr Nachhaken: „Uns wurde in den vergangenen Jahren täglich ins Gesicht gelogen. Überall schossen Desinformation, Propaganda und Verschwörungstheorien aus dem Boden.“ Es wundert sie nicht, dass einer behaupten kann „Ich habe diese Wahl gewonnen!“, obwohl er sie verloren hat. „Das funktioniert, weil diese Art von Lüge darauf baut, dass das Gegenüber Zweifel hat und sich dann sagt: Niemand würde über so etwas Großes lügen, wenn er keine Beweise dafür hätte.“

Populisten wissen genau, warum sie selbst die stumpfsten Lügen in die Welt setzen: weil sie auch dann noch ihre teuflische Wirkung haben, wenn sie nachträglich widerlegt werden. Die Historikerin sagt, warum das funktioniert: „Je öfter Sie etwas hören, desto eher glauben Sie es, weil es Ihnen immer vertrauter wird und Ihr Gehirn Vertrautheit mit Zuverlässigkeit verbindet.“ 

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