Hingucker im Halmenwald

„Hey, du bist ja ’n richtiger Hingucker“, sagte das Gras zur Blüte.
„Findste? Und ich hatte schon Angst, unangenehm bei euch aufzufallen.“
„Wieso das denn?“
„Weil ihr euch alle so herrlich ähnlich seid.“
„Herrlich ähnlich? Wohl eher genormt. Ist doch langweilig.“
„Gegen Langeweile kann man ja was tun“, sagte die Blüte.
„Was denn?“
„Sich lieben. So richtig.“
„Und dann?“
„Dann ist man verrückt. Ich meine, abgerückt. Von jeder Norm.“ ?

Trügerisches Spiegelbild

„Boah, ist das stark!“, sagte das Pflänzchen, als es endlich aus dem Wasser herausgewachsen war.
„Was?“, fragte der See.
„Hier oben zu sein. Ich schaue auf dich runter und kann mich sehen.“
„Und was ist daran so toll? Du guckst doch nur in den Spiegel.“
„Was heißt hier nur? Ich hatte doch gar keine Ahnung von mir, aber jetzt kann ich mich erkennen. Ganz genau.“
„Du vertust dich“, sagte der See. „Für Selbsterkenntnis ist kein Spiegel sauber genug. Da musste schon in die Tiefe gehn.“
„Tiefe? Da komm ich doch gerade her.“
„Ja, aus meiner, aber nicht aus deiner.“

Im leisen Konzert des Waldes

Niemand bei mir und doch nicht allein.
Alte Gedanken treten ein,
setzen sich mir zur Seite,
untermalen die Stille 
mit ihrem Klang, 
wetteifern 
mit dem Rauschen 
des Laubes, 
führen bald das Wort. 
Ich höre ihnen zu 
wie ich es selten getan, 
höre Fragen, 
die ich oft überhört 
oder eingekerkert habe. 
Lausche ihnen 
nun freundschaftlich
im leisen Konzert des Waldes
und beschenke Gedankengäste 
mit Antworten,
die ich soeben noch gar nicht hatte. 

Das große Plus

„Also, ich bin ja offen für so ziemlich alles“, sagte das linke Kirchenfenster zum rechten, „aber das ist mir zu schrill.“
„Was?“
„Das Kreuz da.“
„Wie hättste es denn gern?“
„Nicht so. So bunt und harmlos wie ’n Osterei. Ist doch schließlich ein Folterinstrument. Und Zeichen von finsterstem menschlichen Verhalten.“
„Alles richtig. Aber in diesem entdecke ich mehr.“
„Mehr?“
„Ja, sieh doch mal: ein leuchtendes Plus. Und das sagt, dass nach jeder noch so finsteren Zeit eine andere kommt. Eine, auf die man sich freuen kann. Und weißte, was mich total begeistert?“
„Sag’s!“
„Dass wir dieses Plus mit Licht erfüllen.“ 

Verwurzelt glücklich

„Oben rum biste ja echt `n Hingucker“, sagte der Baum zu seinem Nachbarn, „aber unten …“
„Hey, haste etwa was gegen meine Wurzeln?“
„Nö, nicht wirklich. Man braucht die ja. Ach, Mensch müsste man sein, dann käme man ohne klar.“
„Aber wenn so `n Mensch welche hat, ist er besser drauf“, sagte der Baum.
„Haste schon mal einen mit Wurzeln gesehen?“
„Ja, meistens gleich mehrere zusammen. Mindestens zwei.“
„Was waren das denn für Exemplare?“
„Alles welche, die sich richtig mochten.“
„Wie haste das denn gesehen?“
„Weil die sich gut taten. Die sahen so glücklich aus.“
„Und wie haben die das hingekriegt?“
„Durch ihre Wurzeln. Aber nicht solche wie unsere.“
„He?“
„Ja, unsichtbare, die sich verbinden.“
„Das wünsche ich mir auch. Mit dir. Aber wie soll das gehen?“
„Indem ich dir Gutes wünsche. So wie du mir. Dann können unsere Wünsche wie Äste im Himmel zusammenwachsen.“ ?

Neue Einsicht eines alten Fensters

„Sag mal, kapierst du das?“, fragte das linke Fernster das rechte.
„Was?“
„Dass die nie hier sind.“
„Wer?“
„Sie und er.“
„Ach so. Ja, die fühlen sich halt überall zu Hause.“
„Könnt ich nicht.“
„Ist aber gar nicht so schlecht.“
„Wieso?“
„Überleg doch mal: Wer sich überall zu Hause fühlt, kann nie fremdgehen.“ ?

Er war so umwerfend

„Entschuldige, aber dieser Wind war einfach umwerfend“, sagte die Birke.
„Ach so“, sagte der Weg, „und ich hab schon gedacht …“
„Was haste gedacht?“
„Ach nix“, sagte der Weg.
„Wie, nix?“
„Was soll ich schon gedacht haben?! Dass du meine Nähe suchst. Und dass du wirklich so stark bist wie du aussiehst.“
„Und wieso zweifelst du plötzlich daran?“
„Wenn du’s wärst, dann wärste bei mir doch schon ganz von allein umgefallen. Auch ohne Wind.“ ?

Heiß auf Abstand

„Boah, ist das hier kuschelig“, sagte das Holz.
„Aber auch ganz schön eng“, sagte das andere.
„Heißt das, dass du meine Nähe nicht schön findest?“
„Quatsch, du weißt doch, wie du mir gefehlt hast, als wir noch meterweit auseinander lagen.“
„Also, dann freu dich doch!“
„Tu ich ja.“
„Aber nicht so richtig doll.“
„Doch, ich überleg nur.“
„Was überlegste denn?“
„Dass einer, der Abstand hält, sich nicht automatisch entfernt.“
„Hey, geht’s noch komplizierter?“
„Nee, da ist wirklich was dran: Als ich noch ganz weit von dir weg lag, kapierte ich erst, wie sehr ich dich mag.“ 

Schon ewig unberührt

„Was stehste so verloren rum?“, fragte das Fenster den Schuh.
„Weil ich’s bin: total verloren.“
„Wie meinste das?“
„Schlüpft doch schon ewig kein Fuß mehr in mich rein.“
„Dann ist aber auch schon ewig keiner mehr mit dir durch ’n Dreck gelatscht.“
„Was ist eigentlich mit dir?“, fragte der Schuh. „Ich meine von wegen Dreck. Siehst mir auch ziemlich vergessen aus. Transparenz ist jedenfalls was anderes.“
„Stört mich überhaupt nicht“, sagte das Fenster.
„Wieso nicht?“
„Weil viele nur von Transparenz reden, um Offensichtliches zu vernebeln. Gut, dass ich da nicht mehr mitmachen muss.“ ??

Weil auch welke Wesen dürsten

„Ich hab auch schon mal was Frischeres als dich gesehen“, sagte die Vase zur Blüte.
„Und warum schaust du mich dann dauernd an?“
„Frag ich mich auch“, sagte die Vase.
„Wie, du weißt es nicht?“
„Doch, eigentlich schon, aber irgendwie auch nicht.“
„Vielleicht findest du mich ja einfach schön. Trotz meines Alters“, sagte die Blüte.
„Geht doch gar nicht. Andererseits, irgendwie fühlt sich das so an.“
„Wieso meinst du, dass das nicht geht?“
„Hast wohl vergessen wie alt du bist. Wo soll denn da noch Schönheit herkommen?“
„Ich glaube aus meinen Träumen, aus meiner Hoffnung.“
„Und wovon träumst du?“
„Von jemandem, der mich gern sieht.“
„Wieso?“
„Weil auch welke Wesen dürsten.“