Ein Rotkehlchenleben lang

Wenn mich jemand so richtig begeistert, kann ich es schlecht für mich behalten. Ich muss es ihm oder ihr sagen. Doch dann passiert leider nicht immer, was ich mir wünsche: Manche (Männer) sind so mit ihrer Scham beschäftigt, dass sie nicht mehr dazu kommen, sich einfach zu freuen. Andere tun so, als hätte ich etwas gesagt, das gar nicht sein kann. Und dann gibt es hin und wieder Exemplare (Frauen), die schauen mich an, als hätte ich ihnen gesagt, ein Vogel habe ihnen in die Frisur gekackt. Das Rotkehlchen ist da ganz anders. Häufig kommt es mir ganz nahe. Ich schaue es an, bin hin und weg, kann seine grazile Form fast spüren, liebe seine Farben, mit denen es meine Blicke streichelt. Diese kleine Schönheit kann bestens mit all meinen dahingemurmelten Komplimenten umgehen. Sie schluckt sie wie ein Schönheitselixier. Das ist ganz offensichtlich, finde ich. Dieses Wesen scheint mir dafür zu danken, indem es mich mit einer Schönheit beschenkt, die hält. Ein Rotkehlchenleben lang. ?

Ich zeige es allen

„Auf Typen wie dich kann man doch verzichten“, sagte die Windstille. „Du müsstest dich mal sehen, wie hohl du da herumhängst. Vor so einem kann keiner Achtung haben.“
„Aber alle beachten mich. So oder so,“ sagte der Windsack. „Ich freue ich mich schon auf den Wind. Wenn er mich mit seiner Kraft erfüllt, zeige ich allen, dass er gekommen ist. Und außerdem noch, wohin es ihn treibt. Und wenn ich schlaff herunterhänge, schaut mich auch jeder an, denn ich zeige allen, dass du da bist.“ ? 

Und dann knallten wir zusammen

Was habe ich dich verflucht. War unterwegs und hatte keine Ahnung wohin, plätscherte völlig planlos durch die Gegend. Dann kreuztest du vor mir auf, wir knallten zusammen. Ich hätte dich vor Wut sprengen können, sagte der Fluss zum Stein. Aber irgendwie ist bei dem Aufprall mein Verstand angesprungen. Der hat mir klar gesagt, wohin ich will. Okay, seitdem reibe ich mich Tag und Nacht an dir, aber das macht nichts. Ich tu’s ja mit Überzeugung, kann es sogar genießen, weil du mir Richtung gibst. ? 

Dann wirst du duften

„Na, du altes Haus, zeigst dich ja wieder mal verführerisch offen. Haste keine Angst, dass jeder in dein Inneres schaut?“
„Eigentlich nicht“, sagte das Haus zur Rose. „Aber sag mal, wie geht es dir denn heute, an diesem sonnigen Tag an meiner warmen Wand?“
„Ging schon mal besser“, sagte die Rose.
„Wieso?“
„Ach, alle latschen nur an mir vorbei und keiner schaut mich an.“
„Das lässt sich ändern“, sagte das Haus.
„Und wie?“
„Hör einfach auf, dicht zu machen. Öffne deine zarten Knospen und zeig etwas mehr von deiner inneren Schönheit.“
„Und dann?“
„Dann wirst du duften und der Welt die Augen öffnen.“ 

Am Abgrund

Ostfriesland, Deich

„Wo willste denn hin?“, riefen sie hinter ihr her.
„Nach vorne.“
„Und warum?“
„Weil ich sehe, dass das mein Weg ist.“
„Dein Weg? Quatsch, jeder geht doch seinen Weg.“
„Aber nicht seinen eigenen.“
„Dann guck mal nach rechts. Du stehst nämlich schon direkt am Abgrund.“
„Oh ja. Und die Aussicht ist grandios.“ ? 

Endlich mal hängen lassen

„Ich weiß wirklich nicht, wie man so an seiner Kuh hängen kann“, sagte die Mücke zum Schwanz.
„Das hat was mit Liebe zu tun“, sagte er, „aber davon hast du ja keine Ahnung. Du bist ja nur darauf aus, in alles reinzustechen, was Beine hat.“
„Mit Liebe? Wieso liebst du dieses Riesenviech?“
„Weil ich mich bei meiner Kuh nicht ständig aufrichten und abrackern muss. Bei ihr kann ich mich ruhig mal hängen lassen. Die lässt mich nie los.“ ??

Durch den Wind. Und sie machte weiter.

Sie hatte sich sanft auf ihm niedergelassen. Sie spürte ihn, wurde vom Sturm ergriffen, hörte ihn sagen: „Was machst du da?“ Sie sagte nichts, machte weiter, bewegte sich hin und her. Dann hörte sie ihn sagen, sie sei total durch den Wind. Und sie flog hinweg, die ganze Leidenschaft der Decke für den Tisch. ?

Verschließ mich nicht

„Ich wusste nicht, wie ich es ihm sagen sollte“, sagte die alte Tür.
„Quatsch“, sagte das Haus. „Du mit deiner ewigen Lebenserfahrung kannst mir doch nicht erzählen, dass du nicht die richtigen Worte fandest. Du kennst ihn doch wie kein anderer, weißt sogar wie er sich anfühlt. Unzählige Male hat er dich berührt. Und wenn ich dann daran denke, wie oft du seine geheimsten Gespräche mitgehört hast, wenn er nachts vor dir seinen besten Freund verabschiedet hat.“
„Hast ja recht“, sagte die Tür, „aber dann kam völlig unvermutet der Streit. Es schüttete wie aus Eimern. Die beiden quetschten sich an mich. Plötzlich stieß er mich auf. Und dann dieser schreckliche Knall, als er reinstürmte und mich hinter sich zuschlug. Ich dachte, das darf er doch nicht tun. Ich bebte, und mir blieben sämtliche Worte im Briefschlitz stecken.“
„Und wenn sie nicht steckengeblieben wären, was hättest du dann gesagt?“ „Verschließ mich nicht, lehn mich nur an.“

Du bist doch ein Nichts

„Du bist brutal“, sagte die klapprige Sperrholzwand zur mächtigen Mauer.
„Ich und brutal? Ich bin doch nur stark, ich bin die klare Linie, die unmissverständliche Trennung. Aber wenn ich dich so ansehe, du bist doch ein Nichts. Ein Tritt, und du liegst flach.“
„Aber das wird nicht passieren“, sagte die Sperrholzwand, „denn mich mögen die meisten, dich jedoch nur wenige.“
„Hey, was bildest du dir ein?“, sagte die Mauer.
„Nichts, sagte die Sperrholzwand. Ich stelle lediglich etwas fest: Du verhinderst mit deiner Stärke nur Nähe. Aber ich kann mehr, und dafür lieben mich die Massen, denn ich verhindere Nähe und zugleich Distanz. Und darum sagen die Menschen, ich sei die Höflichkeit.“ ?

So gern hätte er Licht gemacht

Er konnte sie kaum noch erkennen, so schummrig war das Licht in ihrem Zimmer. Alles, was er so gern an ihr betrachtete, bedeckte der Abend mit dem grauen Vlies des davonziehenden Tages. So gern hätte er Licht gemacht, aber er wusste, dass sie es nicht brauchte. Ihre dunkle Brille verbarg Augen, die nie etwas gesehen hatten. Als er sich aufmachte, sagte sie, er sei schön. Sein Danke klang wie ein Fragezeichen. Es stand hilflos zwischen ihnen auf dem grauen Boden aus Stein.
„Sie haben meine Dunkelheit erleuchtet“, sagte sie. „Mit Ihren Worten. Sie schimmern hell. Wie die Gesten eines Pantomimen.“